Von Hühnern, Hähnen und dem Schlaf der Gerechten
Wir brauchen mehr politischen Lärm, um für die Stille einzustehen und weniger privates Stillschweigen angesichts des allgemeinen Lärms.
Vor 35 Jahren zog ich in den Kanton Bern. Es fiel mir nicht leicht, meine Heimatstadt Schaffhausen zu verlassen. Denn dort verlebte ich meine Kindheit und Jugend. In der Altstadt. In einem bereits ziemlich ausgefransten Dorf in der Nähe von Biel fand ich schliesslich meine neue Bleibe. Im Dorfkern. Rundherum wuchsen Einfamilienhäuserghettos, und an der Hauptstrasse sah es bereits viel städtischer aus als in der Munotstadt. Doch es gab noch zwei Bauernhöfe, Gemüsegärten und Ställe mit Kühen und Schweinen und Hühnern. Für mich war klar: Endlich konnte ich meinen Traum vom Leben auf dem Lande verwirklichen. Und so kam es, dass ich bald einen Hühnerhof mit Hahn bewirtschaftete. Täglich lieferten die fünf, sechs Hühner ihre Eier, allmorgendlich schrie der Gockel. Ich war zufrieden, hatte ich doch meine Arbeit in der Stadt und meinen Rückzugsort auf dem Dorfe. Meine Nachbarn, durchaus kritisch-grüne Stadtflüchtlinge wie ich, hatten angesichts ihres neuen Babys das Heu nicht auf der gleichen Bühne wie mein Hahn. So ein Kleinkind muss morgens schlafen können. Und so kam es, wie es kommen musste. Das vorlaute Vieh zollte dem kleinen Schreihals Tribut und verschwand für immer aus unserem Leben. Ich selber zog bald auch von dannen. In einem entlegenen Dorf im Berner Jura baute ich einen prächtigen Hühnerstall und profitierte von den Bioeiern meiner Hennen, die vor Füchsen und Mardern von einem neuen und eindrücklichen Hahn notdürftig geschützt wurden. Beim Nachdenken über meine Geschichte wurde mir klar: Der Lärm ist immer der Lärm der anderen. Mähdrescher während der Ernte, Motorradfahrer am Wochenende, Rockfestivals in Jurawäldern, Kirchenglocken (zu) früh am Sonntagmorgen, Kuhglocken überhaupt und das Kindergeschrei in der Dorfbeiz stehen für die Pflicht und Freude der einen und für das Ruhebedürfnis der anderen. Oder wie Tucholsky einmal schrieb: «Der eigene Hund bellt nur, er macht keinen Lärm».
Soweit so gut. Doch wie kann man das alles regeln? Ist «Des einen Freud, des andern Leid» einfach hinzunehmen? Gibt es «objektiv» beurteilt ein Recht auf Lärm, ein Recht auf Stille? «Objektiv» bedeutet heutzutage, dass die Gemeinschaft der Bürger Kriterien erstellt, was an Lärm zumutbar ist. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat festgelegt, dass 55 Dezibel am Tag und 45 Dezibel des nachts nicht überschritten werden sollten. Aber in der Realität sieht es oft anders aus: Bewohner an einer lauten Schnellstrasse oder in der Nähe eines Flughafens müssen bei einem nahenden Lastwagen oder landenden Flugzeug bis zu 80 Dezibel Lärm ertragen. Denn die Lärmbegrenzungen werden nur als Durchschnitt über den Tag verteilt errechnet. Der plötzlich einfahrende Lärm, der einen aufweckt und stört, ist eben kein durchschnittlicher. Anders gesagt: Wir müssen den plötzlich auftretenden Lärm hinnehmen. Er gehört zu einem kulturellen Standard. Das Leben in modernen Zeiten ist nun mal sehr oft lärmig.
Wenn Schopenhauer schreibt: «Ich hege wirklich längst die Meinung, dass die Quantität Lärm, die jeder unbeschwert vertragen kann, in umgekehrtem Verhältnis zu seinen Geisteskräften steht!», verteidigt er ein Mass an Stille, das fürs Denken, Meditieren oder künstlerische Schaffen notwendig ist. Und Dostojewskij stösst ins gleiche Horn, wenn er moniert, dass «die Menschheit zu laut und zu industriell» werde und «zu wenig geistige Ruhe» habe. Wer sich gegen den Lärm wehrt, befindet sich also in Opposition zu einer Gesellschaft, deren Existenz geradezu vom Lärm abhängt. Moderne Ruhe ist demnach ein Luxus. Solange sich wohlbestallte «Städter auf dem Lande» in Ruhe wähnen können, wird das Problem kaum grundsätzlich aufgegriffen. Das weiss jeder, der Grossstädte besucht: Auf dem Weg in die musealen und ruhigen Innenstädte fährt er durch «Lärmsiedlungen», die er selbst niemals bewohnen möchte. Paris, London oder New York sind für die meisten Bewohner keine Orte der Ruhe, und es sind keine «schönen» Städte, aller Reiseführer zum Trotz. Lärmisolationen mögen innerhalb des Wohnraumes helfen, der erste Schritt «nach draussen» bedeutet aber das böse Erwachen. (Also: Stöpsel rein und Lärm mit Lärm bekämpfen …) Im Verhältnis dazu sind Kirchenglocken und schreiende Hähne harmlos.
Wer sich in seinem engeren Umfeld gegen «Lärm» wehrt, muss sich konsequenterweise die Frage gefallen lassen, ob er die Lärmgesellschaft auch bekämpft, wenn sie ihn (noch) nicht stört. Oder anders gesagt: Der überschaubare, kleine Lärm ist nicht das philosophisch Entscheidende. Der grosse Lärm ist das Resultat der Produktionsverhältnisse, von denen wir alle leben. Unsere Flüge an ruhige Urlaubsdestinationen, die zunehmende Mobilität überhaupt und auch die liebgewordenen Lebensnischen im Grünen sind Teil davon. Wir sind, laut Dürrenmatt,$ schlichte «Mitmacher». Mit oder ohne Gockel. Wer sich gegen den «industriellen Lärm» wehren will, kann nicht einfach fliehen. Adorno trifft den Nagel auf den Kopf in seinen «Minima Moralia»: Diesbezüglich gibt es kein richtiges Leben im falschen. Zudem hat die Stille tatsächlich und grundsätzlich schlechte Karten in der Auseinandersetzung mit dem Lärm.
Wie wär’s mit einer Prise bewegender Dialektik? Wir brauchen mehr politischen Lärm, um für die Stille einzustehen und weniger privates Stillschweigen angesichts des allgemeinen Lärms. Das zumindest lässt den Schlaf an stillen Orten etwas gerechter erscheinen.
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