Was das hohe Gericht sagt
Wer etwas Unerlaubtes tut und dennoch recht haben will, muss sich etwas einfallen lassen. Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben».
«Ich meide den harten Asphalt und gehe auf dem weicheren Gras.» (Bild NL)
«Ich meide den harten Asphalt und gehe auf dem weicheren Gras.» (Bild NL)

Gelegentlich führt mich mein Weg an Eigenheimen vorbei, die noch ganz neu sind. Auch der Rasen vor den Häusern ist neu, und er endet direkt an der Strasse. Da die Strasse kein Trottoir hat, erlaube ich mir, den harten Asphalt zu meiden und auf dem weicheren Gras zu gehen. Doch obwohl ich nur den Rand der frischgemähten Wiese benütze, muss ich jederzeit damit rechnen, dass der Besitzer des Hauses erscheint und mich ärgerlich darauf hinweist, der Rasen gehöre zu seinem Grundstück. Ich dürfe ihn nicht betreten.

Die meisten Menschen erleben solche Situationen nie. Sie bleiben von vornherein auf dem Asphalt. Ihr Verhalten erleichtert ihnen das Leben. Sie müssen sich nicht gefallen lassen, dass sie der Grundbesitzer zur Rede stellt. Sie müssen sich weder entschuldigen noch verteidigen. Sie haben alles richtig gemacht.

Auch der Eigentümer des Rasens darf ihnen dankbar sein. Sein teuer bezahltes Recht auf den eigenen Garten bleibt unangetastet. Er muss sich nicht ärgern. Er muss seine Tätigkeiten nicht unterbrechen, um andere Menschen zurechtzuweisen – obwohl er das vielleicht gerne täte. Doch sowohl ihm selbst, als auch den Passanten, die seinen Rasen unberührt lassen, bleibt eine Konfrontation erspart. Was dem Wohlbefinden auf beiden Seiten nur förderlich ist.

Menschen wie ich dagegen mit möglicherweise pathologischem Freiheitsdrang machen es sich und dem Grundeigentümer unnötig schwer. Durch ihr eigenmächtiges Tun zwingen sie den Besitzer des Rasens geradezu, sein Haus zu verlassen und sie zu ermahnen, wenn nicht sogar zu verwarnen. Besonders Eigentümer mit ausgeprägtem Besitzerstolz könnten durch meine Grenzüberschreitung unangenehm provoziert, wenn nicht sogar in rasende Wut versetzt werden.

Um so wichtiger deshalb ist eine entwaffnende Antwort, die den ungehaltenen Grundbesitzer nicht unnötig reizt und von vornherein deeskalierend wirkt. Ein übergangsloser Wechsel zu einer juristischen Argumentationsweise ist in solchen Fällen mit Sicherheit der empfehlenswerteste Reaktion. Freundlich lächelnd würde ich dem Eigentümer des Rasens erklären:

Es gibt einen Bundesgerichtsentscheid, sehr verehrter Herr, der besagt, dass Passanten bei fehlendem Gehsteig neben die Strasse ausweichen dürfen. Zumutbar für den Landbesitzer – sagt das Bundesgericht – ist ein Streifen, der die Breite eines schmalen Fusswegs besitzt. Innerhalb dieser Breite gilt ein gewohnheitsmässiges Wegrecht, das vom Grundeigentümer gewährt werden muss.

Meine gutgemeinte Belehrung würde den Herrn nicht erfreuen, doch er müsste sie wohl oder übel schlucken. Ein Bundesgerichtsentscheid ist ein gewichtiges Argument. Mit einem höflichen Nicken würde ich mich vom Landeigentümer verabschieden. Auf seinem Rasen würde ich weitergehen. Er könnte mich nicht daran hindern, und er dürfte mir auch nicht zürnen. Das Recht ist auf meiner Seite.

Was aber können freiheitlich denkende Menschen aus meiner Empfehlung lernen? Dass es vorteilhaft ist, in jeder Situation einen Bundesgerichtsentscheid zu kennen. Man muss nur erfinderisch sein.

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

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