Was wird gefeiert?

Längst wissen wir, dass die Schweiz nicht am 1. August 1291 auf dem Rütli gegründet wurde.  Die historische Wahrheit unterscheidet sich beträchtlich von den patriotischen Gründungsmythen. Doch die „Geistige Landesverteidigung“ spukt weiterhin in vielen Schweizer Hirnen.


Wilhelm Tell ist keine historische Figur, sondern ein weit verbreitetes Sagenmotiv, das ist bekannt. Die Armbrust war um 1300 zwar bereits von den Chinesen erfunden worden, verbreitete sich aber als Kriegs- und Jagdwaffe im Alpenraum erst nach der Schlacht von Marignano (1515), stellten die Sporthistoriker schon vor über 20 Jahren fest. Die Gründung eines Nationalstaats erfolgte 1798 (durch Napoleon gestiftete Helvetische Republik) und 1848 (bürgerlich-liberale Verfassung, Bundesstaat). Der  so genannte Bundesbrief war eine Vereinbarung zwischen den Eliten von drei Innerschweizer Talschaften.

700 Jahre Freiheit und Demokratie?
Freie Bauern und Älpler sollen sich im 14. Jahrhundert gegen die Unterdrückungsgelüste von fremden Vögten und Hochadligen gewehrt haben. Dem hält der Zürcher Geschichtsprofessor Roger Sablonier in seiner Neuerscheinung „Gründungszeit ohne Eidgenossen“ entgegen, die Innerschweizer Noblen wie Attinghausen und Stauffacher hätten sich mit dem Bündnis abgesichert gegen soziale Aufsteiger, sich Herrschaft und Gerichtsbarkeit gesichert und gegenseitige Hilfe versprochen, sollten diese Ansprüche in Gefahr geraten.
In der angeblich 1291 auf dem Rütli beschworenen Vereinbarung stehen weder Datum noch Ort und nichts von gleichen Rechten oder der Abschaffung von Zins- und Arbeitspflicht gegenüber den Grundherren. Mit dem habsburgischen Herzog Leopold ist es laut Sablonier zu Streitigkeiten um Vogteirechte des Klosters Einsiedeln und zu Erbstreitigkeiten wegen der Herrschaft Rapperswil gekommen.

Aktive Geschichtsfälschungen
Am patriotischen Mythenlack gekratzt hatten bereits die von vielen als Skandal wahrgenommenen Bücher „Wilhelm Tell für die Schule“ (Max Frisch 1970) und „Schweizer Geschichte für Ketzer“ (Otto Marchi 1971). Ein weiterer kritischer Geschichtsforschungsschub kam 1991 mit der gescheiterten 700-Jahr Feier und dem erfolgreichen Kulturboykott. Sablonier hat nun mit seinen in der Neuerscheinung dokumentierten Forschungen Lücken geschlossen und die Erkenntnisse vertieft. Heute ist klar, woher der Mythos des Bündnisses der Waldstätte als Keimzelle des modernen demokratischen Staates stammt: Das Ende 15. Jahrhundert verfasste „Weisse Buch von Sarnen“ arbeitete bereits in diese Richtung, der Glarner Gelehrte Aegidius Tschudi trieb dann im 16. Jahrhundert die Geschichtsfälschung weiter voran.

Nationalistisches Überlegenheitsgefühl
Der junge bürgerlich-liberale Nationalstaat der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert übernahm diese Gründungsgeschichte mit heldenhaftem Freiheitskampf als Legitimation und baute sie aus, Schiller und Rossini halfen kräftig mit dabei. Die „Geistige Landesverteidigung“ der Dreissiger und Vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts bediente sich aus dieser Kiste. Es ging damals einerseits darum, ein eigenständiges nationalistisches Überlegenheitsgefühl zu definieren in Abgrenzung zum schneidigen und invasiven Nationalismus der Deutschen. Andererseits darum, mit den diffusen Nationalgefühlen Ungerechtigkeiten zu kaschieren, die in Spannungen zwischen den Sprachkulturen und sozialen Schichten zum Ausdruck kamen.

Dringende Probleme verdrängen
Der Nationalismus feiert heute wieder Urstände, wider besseres Wissen glorifiziert man die Schweiz und den angeblichen Gründungsakt von 1291 und feiert den 1. August auf dem Rütli, auf Festwiesen und in Mehrzwecksälen. Zusätzlich werden Landesausstellungen und Fussballmeisterschaften euphorisch als patriotische Konsumfeiern begangen. Diese Massenhysterien sind ungemein praktisch, um global dringende ökologische, wirtschaftliche und soziale Probleme zu verdrängen und ein virtuelles Gemeinschaftsgefühl zu verbreiten.