Welches ist der Hauptwiderspruch?

Wie uns eine Schrift von Mao tse tung dabei helfen kann, unsere Haltung zu China zu überdenken. Kolumne aus dem Podcast «Fünf Minuten».

Maos These über den Widerspruch hat mich begleitet bis heute (Bild Netzfund)

Mao tse tung ging über Leichen. Über Berge von Leichen. Er war ein Tyrann, der das chinesische Volk mit brutaler Gewalt zu seinem sozialistischen Glück zwang, weil er glaubte, nur durch die Diktatur sei Fortschritt erreichbar. Um den kommunistischen Weg, den er mit seiner Partei beschritt, strategisch vorzubereiten, schrieb er aber auch zahlreiche politische Essays, und eines davon, eines der wichtigsten, trägt den Titel «Über den Widerspruch». 

Seinerzeit, in jenem kommunistischen Orden, dem auch ich angehörte, waren Maos programmatische Texte Pflichtlektüre. Und ich glaube, ich spürte beim Lesen des Textes schon damals, wie philosophisch er eigentlich war. Ein konfuzianisches, im weitesten Sinn spirituelles Denken schwingt darin mit, das westlichen Kommunisten verschlossen blieb. 

Der einstige «Grosse Vorsitzende» formuliert in seiner Schrift ein Gesetz, das nicht nur für die Politik, sondern für alle Bereiche des Lebens gilt. Er geht davon aus, dass uns im Leben stets mehrere Probleme bedrängen. Aber wir können sie nicht alle gleichzeitig lösen. Mao tse tung, der die Probleme als «Widersprüche» bezeichnet, rät uns deshalb, danach zu fragen, welches dieser Probleme das Hauptproblem ist. 

Haben wir den Hauptwiderspruch erkannt, müssen wir uns auf ihn konzentrieren und die Nebenwidersprüche vorübergehend vernachlässigen. Gelingt uns die Lösung des Hauptproblems, werden sich in der Folge auch die anderen Probleme bewegen. 

Einige Jahre später, meiner Utopiegläubigkeit entwachsen, entfernte ich die Bücher von Mao tse tung aus dem Büchergestell. Doch Maos These über den Widerspruch hat mich weiter begleitet. Bis heute. Immer wieder, wenn es darum geht, eine Situation zu entwirren und zu entscheiden, worauf es jetzt ankommt, überlege ich mir: 

Wo liegt der Hauptwiderspruch?

In jüngster Zeit stelle ich mir diese Frage gerade auch, wenn es um China geht. Seit meiner Abkehr vom Kommunismus war das asiatische Riesenreich für mich bloss noch ein Ort des Grauens. Alles, was ich in den letzten Jahrzehnten von China las, bestätigte mich in meinem Verdikt. In China herrscht keine Meinungsfreiheit. In China hat der einzelne Mensch keinen Wert. In China ist die Überwachung total. In China gibt es nur staatstreue Medien. In China ist sogar das Internet zensuriert. In China, während Corona, wurde ein ganzes Volk während Monaten eingesperrt. In China wird jeder Protest, jede friedliche Kundgebung niedergeschlagen. In China vegetieren Tausende von Regimegegnern in Gefängnissen. In China werden Minderheiten wie die Uiguren ihrer Rechte und ihrer Kultur beraubt, in Lagern gefangen gehalten und umerzogen.

Das alles finde ich schlimm. Und am schlimmsten fand ich seit jeher die chinesische Unterdrückung in Tibet. Wie konnte man ein so friedliches, nach innen gekehrtes Volk derart misshandeln?

Immer wieder empörte ich mich darüber aufs Neue. Immer wieder schrieb ich dagegen an. Als vor einigen Jahren viele tibetische Menschen sich aus Verzweiflung verbrannten, fühlte ich gleichsam selber den Schmerz – so sehr berührte und bewegte mich ihre Ohnmacht. Würde ich hassen können, dann hätte ich China aus vollem Herzen gehasst. So aber blieb auch mir nur das Leiden am tibetischen Schicksal.

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Doch dann, vor zwei Jahren, marschierten die russischen Truppen in der Ukraine ein. Und je mehr ich darüber las und erfuhr, wie sehr der Westen unter der Führung der USA diesen Einmarsch geradezu provoziert und mit Nadelstichen gefördert hatte, um Russland zu schwächen; je mehr ich in der Folge erkannte, wie sehr die USA nach wie vor die Weltherrschaft für sich beanspruchen; je mehr ich erkannte, wie sehr überhaupt der Westen der ganzen Welt seine westlichen Werte aufzuzwingen versucht, die in Wirklichkeit hegemoniale Werte sind; je mehr ich also verstand, dass die Schatten der Kolonialzeit unsere Welt noch immer verdüstern – um so mehr ist mir inzwischen bewusst geworden, warum sich inzwischen so viele Staaten gegen den westlichen Neokolonialismus erheben. 

Ich bin selber ein Mensch des Westens. Doch spätestens seit Corona, als die westlichen «Demokratien» ihr wahres Gesicht zu erkennen gaben, wurde mir vollends klar, dass ich mir keine vom Westen beschlossene Weltordnung wünsche. Ich will überhaupt keine Weltregierung, sondern wünsche mir eine Erde, auf der die Nationen und Völker, ob gross oder klein, unabhängig und gleichberechtigt, in friedlichem Wettstreit zusammenleben. 

Mit Interesse verfolge ich deshalb das Wachstum der Staatengemeinschaft, die sich nach ihren Gründungsmitgliedern den Namen BRIC gab und inzwischen fast schon die Hälfte der Menschen auf diesem Planeten umfasst. Vor dem Ukrainekrieg wusste ich nichts von dieser Vereinigung. Doch jetzt, wo ich geopolitisch wacher denn je bin, sehe ich in der neuen Gemeinschaft eine reale Hoffnung für unsere Welt. 

Ihre Gründungsmitglieder sind Brasilien, Russland, Indien und China. Ich begegne ihnen mit Wertschätzung, denn ohne ihre Initiative gäbe es diese Gemeinschaft nicht. Damit gilt meine Anerkennung aber auch China. Ich müsste ein Land lobend erwähnen, das ich bisher immer verurteilt habe. Ich müsste einer unerbittlichen Diktatur meine Wertschätzung zollen. Und das «Reich der Mitte» ist nicht die einzige Tyrannei unter den Mitgliedstaaten der BRICS mit S, wie die Staatengemeinschaft inzwischen heisst. 

Zu den neu dazugekommenen Staaten, neben Südafrika, Ägypten, Äthiopien und den Arabischen Emiraten, gehört der Iran, der es ebenfalls nicht verdient, als eine Demokratie bezeichnet zu werden. Dutzende weitere Staaten haben inzwischen ein Beitrittsgesuch eingereicht – unter ihnen unzweideutige Diktaturen wie Venezuela, Nicaragua und Kuba, Nordkorea und Myanmar. 

Wie kann ich eine Vereinigung positiv sehen, wo sich lauter autoritäre Regimes ein Stelldichein geben? Wie kann ich Staaten auf einmal wertschätzen, die meine Werte, für die ich mich immer eingesetzt habe, gewissermassen verachten? Und vor allem: Wie kann ich Menschen aus Tibet unter die Augen treten, wenn ich für ihre chinesischen Vögte anerkennende Worte habe?

Und damit sind wir wieder beim «Grossen Steuermann», bei jenem Despoten, der am Anfang von Tibets Leidensweg stand – und der doch zugleich jenes Essay verfasste, das mir durchaus schon geholfen hat. Wir sind wieder bei Mao tse tung und dem Hauptwiderspruch. 

In einer Situation, in der auf der einen Seite die für mich weltpolitisch wertvolle Initiative der BRICS-Staaten steht und auf der anderen Seite die mannigfache Missachtung der Menschenrechte in China – in einer solchen konträren Konstellation muss ich mich fragen: Welches dieser sich widersprechenden Themen ist das Hauptthema? Worauf kommt es bei China gegenwärtig vor allem an? 

Ich kann natürlich den Standpunkt vertreten: Solange China die Menschenrechte im eigenen Land so drakonisch mit Füssen tritt, bin ich nicht bereit, demselben Staat eine positive Rolle in der Welt zuzugestehen. Dann müsste ich es wie die deutsche Aussenministerin machen, die nach China gereist ist, um den chinesischen Staatsvertretern in Sachen Menschenrechte die Leviten zu lesen – mit dem Erfolg, dass sich die chinesisch-deutschen Beziehungen weiter verschlechtert haben.

Aber ich kann auch die Frage stellen: Was ist im Augenblick für die Welt wichtiger? Dass ich, wenn es um China geht, weiterhin auf den Menschenrechten beharre? Oder dass ich Chinas Initiative für eine Welt unterstütze, in der mehrere Supermächte, sich respektierend, nebeneinander wirken und existieren können?

Die Menschenrechte vergesse ich nicht. Doch der amerikanische, die westlichen Länder mit sich reissende Vorherrschaftshunger gefährdet den Frieden auf unserer Erde wie vielleicht nie zuvor. Nur ein Gegengewicht der anderen Hälfte der Welt kann ihren Zustand wieder ins Lot bringen. Das ist die Priorität, die der Welt hilft. Das ist die Lösung des Hauptwiderspruchs.

Gewiss – wenn wir uns für die positive Rolle von China entscheiden, dann lassen wir seine Schattenseite für den Augenblick unerwähnt. Dann wird die Schändung der Menschenrechte zu einem Nebenwiderspruch, den wir nicht gleichzeitig angreifen können. 

Wenn es aber China, Russland und den anderen Staaten der BRICS gelingt, die amerikanische Hegemonie zu brechen und eine neue, multipolare Weltordnung anzustreben, dann kommen die Dinge in Fluss und alles in einem Land kann sich ändern. Selbst in China.

Die Menschenrechte zur Nebensache zu machen, fällt mir nicht leicht. Doch in der gegenwärtigen bedrohlichen Zeit darf ich mir nicht zu gut dafür sein, mir die Hände schmutzig zu machen. Da muss ich realpolitisch zu denken versuchen. Auch wenn mir das Weltanschauliche lieber wäre. Aber nicht immer ist das, was mir lieber wäre, das Richtige. 

Kommentare

Danke

von MS
Einmal mehr, meine Gefühle für die aktuelle Lage in Worte gefasst, dafür bin ich dankbar und bezahle gerne weiterhin einen Beitrag an den Zeitpunkt. Apropos Geld, damit es nicht in Waffen investiert wird:
  • Hier unterzeichnen: https://unsinnig.ch/
  • Zu einer alternativen Bank wechseln
  • Bei der Pensionskasse nachbohren wo sie investieren
  • Den Fokus nicht nur auf den "Hauptwiderspruch" sondern vielmehr auch auf die "Hauptlösung" legen, sich also eine friedliche Welt in allen Details ausmalen: wie könnte es gehen, was kann ich tun und geben, träumen, meditieren, beten... am besten täglich, bspw. im Zug, statt aufs Display zu schauen ;)