Wer dranbleiben will, muss loslassen können
Die 37-jährige Psychologin Fabiola Anaya arbeitet in Bolivien seit fast zwanzig Jahren mit Menschen, die weiterkommen wollen – und dafür Normen brechen müssen.
Camilla Landbø: Steiler Einstieg: Lernen wir nicht erst wirklich loszulassen, wenn wir sterben?
Fabiola Anaya: Nun, spätestens dann tun wir es gezwungenermassen. Ja, der physische Tod ist der Gipfel, die Königsdisziplin des Loslassens. Aber würden wir bewusster leben, wüssten wir, dass wir während des Lebens viele Male sterben. Beispielsweise wenn du dich von einem Partner trennst, stirbt ein Teil von dir. Was du dann daraus machst, das ist das Entscheidende. Wirfst du dich auf den Boden, weinst und erklärst dein Leben für beendet? Oder stehst auf und sagst zu dir, das ist mein Moment, meine Gelegenheit, etwas Neues zu beginnen?
Immer wieder mal loslassen also?
Anders gesagt: Wenn man eine zu grosse Bindung zu einer Person oder zu einer Sache entwickelt, ist es oft deswegen, weil man voraussetzt, dass man fürs Glücklichsein, für die innere Ruhe, und um sich vollständig zu fühlen, sie benötigt. Du hältst also daran fest, auch wenn dein Leben eine Katastrophe ist. Und dann: resignierst du. Ein Tod auf Raten.
Wie ist eine resignierte Person?
Ängstlich, angespannt, sie kann auch anhänglich, unterwürfig oder introvertiert werden. Würde sie etwas ändern wollen, sich etwa vom Partner trennen, verfolgten sie Gedanken wie «Was denken die anderen Leute» oder sie sorgte sich um ihre Stabilität, um den Status in der Gesellschaft. Zumindest hier in Bolivien ist das noch sehr stark der Fall, vor allem bei Frauen.
Stärker als in Europa?
Klar, die Hürden können sich unterscheiden je nach Land. Aber am Ende, wenn es ums Loslassen und Eigene-Wege-finden geht, konfrontierst du dich immer in einem kleineren oder grösseren Mass mit der Gesellschaft – egal, wo du lebst. Denn jede Gesellschaft ist kastrierend. Sie schreibt dir vor, was du zu tun hast.
So vieles, das man loslassen könnte, oder?
Es geht darum, dass man erkennt, wer oder was einem nicht gut tut oder nicht mehr gut tut. Eine Liebesbeziehung, die Vergangenheit, materielle Bedürfnisse, eine Mentalität, Gedanken, Trauer, eine Arbeit oder die Familie, in die man geboren ist.
Die Familie loslassen?
Manchmal ist das zwingend notwendig, wenn man nicht resignieren will und gesund leben möchte.
Die Gesellschaft verurteilt das doch? Denn Vater und Mutter sollte man ehren...
Ja, das tut sie. Aber das hat mit fehlender Empathie zu tun. Meist verurteilen dies Menschen, die selbst in einer Beziehung leiden, jedoch gelernt haben, damit zu leben, mehr noch: diesen Zustand unterdessen als normal betrachten. Sie verurteilen, wenn sich andere Menschen emanzipieren und ihr Leben zu leben wagen.
Leute, die sich von einer Sekte lossagen, werden auch gerne zur Persona non grata deklariert...
Genau. Deswegen scheitern viele Leute auf halbem Weg, also im Versuch jemanden oder etwas loszulassen. Denn der gesellschaftliche Druck kann sehr gross sein. Zurück zum Beispiel der Familie: Das kann so weit gehen, dass Drohungen ausgesprochen werden wie «Wir aberkennen dich als Familienmitglied» oder «Du bringst deine Grossmutter ins Grab, mit dem, was du machst». Das ist emotionale Erpressung.
Wenn das so verzwackt ist, wie schafft es eine Person, sich freizuschlagen?
Eine Familie ist wie eine Kette, die einzelnen Glieder sind miteinander verbunden. Du kommst auf die Welt, bist Teil dieser Kette, lernst nach den Regeln der Familie zu leben. Wann hört das auf? Mit Blick auf Familien mit toxischen Strukturen, die über Generationen weitergegeben werden, hört es erst auf, wenn ein Glied sagt: Stopp, das muss ein Ende nehmen.
Eine Person alleine?
In der Regel tun das entschiedene Menschen, die besonders stark sind. Selbstverständlich wird die Familie es nie als das erkennen, sondern bezeichnen den Ausbrecher als Rebell, schwarzes Schaf oder Verräter. Ein Mensch, der bereit ist loszulassen, hat oft ein von der Norm unabhängiges Denken, ein Selbstbild und ein Selbstwertgefühl. Fehlt dies, braucht es Unterstützung, etwa von einem Therapeuten. Er bereitet die Person auch darauf vor, was sie alles verlieren wird, wenn sie loslässt.
Zum Beispiel?
Etwa die Komfortzone. Sicherheit. Du destabilisierst dich und verlierst dadurch vorübergehend Vertrauen. In einer ersten Etappe kann es dich auch isolieren, von der Gesellschaft. Vielleicht musst du dich von deinem bisherigen Freundeskreis entfernen.
Und dann?
Ein zufriedener Zustand geht damit einher, dass du deine Quellen kennst, die dich glücklich machen. Diese sind nie extern, sondern liegen in dir selber. Und er hängt davon ab, wie du Dinge, die dir passieren oder dich umgeben, interpretierst. Als Therapeut stärke ich solche Personen, in dem ich mit ihnen ihre Glücksquellen ausfindig mache.
Sollte man an gewissen Dingen nicht auch dranbleiben?
Was dich glücklich macht, daran solltest du festhalten.
Leidenschaften, Wünsche?
Klar, an Lebensprojekten, Überzeugungen, Zielen sollte man dranbleiben. Heute ist alles sofort. Als ich jung war, in den 80er-Jahren, wenn mir ein Lied gefiel, musste ich vor dem Radio warten, bis es abgespielt wurde und ich es aufnehmen konnte. Kurzum: Geduld war gefragt, um mein Ziel zu erreichen. Heute leben wir in einer Gesellschaf des Unmittelbaren. Dir gefällt ein Lied: du lädst es sofort herunter.
Und das bedeutet?
Die Menschen, die nach dem Jahr 2000 auf die Welt gekommen sind, sind nicht mehr daran gewöhnt, zu warten, auszuhalten, zu kämpfen, zu scheitern, wieder aufzustehen und es nochmals zu versuchen.
Wieso lassen Leute ihre Leidenschaften liegen? Das sind doch Glücksquellen?
Ein Faktor liegt in einem selber, intern: das Fehlen von Impuls, von Passion. Denn, wenn du etwas wirklich willst, wirst du es tun – auch wenn die ganze Welt dagegen arbeitet und dir sagt, du seist dazu unfähig.
Wieso fehlt jemandem Leidenschaft?
Weil wir automatisiert und konditioniert sind, weil wir immer noch mit der Furcht leben, was andere denken und weil wir nach wie vor das Alter als einen entscheidenden Faktor ansehen.
Das Alter?
Ja. Wenn du als 30-Jähriger noch kein erfolgreicher Maler bist, ist das schlecht oder gut? Die Gesellschaft bewertet dich oft nach deinem Alter. Bist du ab einem gewissen Alter noch nicht am Gipfel angekommen, bist du nicht gut genug. Solche Leute nenne ich Energiediebe.
Energiediebe?
Ich sage zum Beispiel: «Ich werde ein Unternehmen gründen.» Sie antworten: «Nein, mach es nicht, damit wird es dir nicht gut ergehen, du verlierst dein Geld.» Oder jemand, der mit 35 Jahren endlich seinen Traum als Koch verwirklichen will und sich bei einer Kochschule meldet, und die sagt: «Sorry, du hast das Höchstalter überschritten.» Wieso muss eine Ausbildungsstätte so was tun? Wofür? Das sind Energiediebe. Das Alter sollte überhaupt keine Rolle spielen.
Ich stelle mir immer die Leute im Sterbebett vor, wenn sie realisieren, woran sie nicht drangeblieben sind...
Der Mensch könnte diese Bilanz während des Lebens immer wieder ziehen, zum Beispiel an Geburtstagen. Was habe ich letztes Jahr erreicht? Was ist noch zu tun? Viele machen dies aber nicht, weil sie Angst haben wahrzunehmen, dass sie gerade dabei sind zu scheitern. Und dann kommen sie beim Sterbebett an und sagen: Mist, ich habe das nicht getan, dies nicht losgelassen und jenes nicht verarbeitet. Loslassen hat nämlich auch mit Verarbeiten zu tun. Und mit Verzeihen.
Und wie lässt man Hass und Macht los?
Uff, Hass, das ist das Schwierigste – es ist das stärkste und schädlichste Gefühl. Eine Person lässt den Hass erst dann los, wenn sie wirklich verstanden hat, dass er ihr nur schadet. Und Macht: Sie ist eine Droge. Wieso sollte jemand die Macht loslassen wollen? Er verliert nicht nur die Macht selber, sondern auch die Pseudo-Freunde, das Umfeld, den sozialen Status, er wird nicht mehr zu Festen eingeladen. Er verliert alles, was eine Zeit lang seine Lebensessenz war.
Loslassen, das omnipräsente Thema. Auch in Suchmaschinen. Da findet man lauter Tipps dazu. Dagegen kaum bis nichts, wenn man «Dranbleiben» eingibt.
(lächelt) Das Leben ist zyklisch. Früher haben wir am Status Quo festgehalten, uns an Dingen festgekrallt. Heute schreien alle: «Sich öffnen, loslassen und raus aus der Komfortzone!» Wir gehen ins andere Extrem. Ich selbst sehne mich nach einer Zeit, in der wir Menschen zu einem Gleichgewicht finden. Wissen, was man loslassen und was man festhalten sollte.
Fazit: Wenn man gewisse Dinge nicht loslässt und an anderen nicht dranbleibt, dann findet man das Glück nie?
Nein! Nun, ich weiss nicht, ob die vollständige Glückseligkeit existiert. Aber was ich weiss, ist, dass du dir in diesem Leben die grösstmögliche Glücksseligkeit sichern kannst.
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Mehr über «loslassen | dranbleiben» in Zeitpunkt 161
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