Widerstand in der Besatzungszone
Das Auto fordert viermal mehr Tote als alle bewaffneten Konflikte. Zudem zerstört es enorm viel Lebensraum. Es ist Zeit, dieser Besatzungsmacht Widerstand zu leisten.
Die Bedeutung des Autos nimmt zu. Das mag keine gute Botschaft sein, ist aber Realität. Gefahrene Kilometer und Anzahl Autos pro Einwohner steigen weiter an. Unsere Lebensweise wird trotz S-Bahn und autoferner Jugend autoabhängiger. Gutes Beispiel sind die Einkaufszentren ausserhalb der Städte. Während sie früher das Angebot ergänzten, machen sie in vielen Städten inzwischen das Hauptsortiment aus. Die Filialen im Zentrum werden rückgebaut auf Quartierniveau. Jüngstes Beispiel: Die Migros zieht in Brig an die Peripherie und verkleinert die Filiale im Zentrum. Wer die volle Auswahl will, steigt ins Auto.
Eine Entwicklung, die niemand will; und doch geschieht sie. Das Auto grundsätzlich anzuzweifeln, gleicht einem Tabubruch. Seit fünfzig Jahren ist es Symbol für Wohlstand und Produktivität, trotz aller Nachteile. Auch heute noch assoziiert man das Auto mit Status, Freiheit und Selbstbestimmung. Über die Hälfte der Fahrzeuge sind über den Nutzwert hinaus dimensioniert und lassen sich nur durch emotionale Faktoren erklären. Der Mythos Auto lebt weiter, obwohl es freie Fahrt und Top Speed längst nicht mehr gibt. Die Freiheit findet im Kopf statt, bzw. im Innenraum des Offroaders, des Sportwagens, der Luxuskarosse.
Jährlich sterben weltweit 1,2 Millionen Menschen bei Verkehrsunfällen. Alle Kriege zusammen kommen gemäss WHO auf knapp einen Viertel der Todesopfer. Wie kommt es, dass wir nicht fähig sind, sachlich über ein Monster zu reden, das die Welt massakriert, Lärm macht und aus unseren Wohnorten unwirtliche Zonen? Strassen verhindern die Entfaltung der Kinder, die sich nicht mehr im Quartier bewegen dürfen. Städte werden auseinandergerissen von den Strassenachsen.
Eigentlich leben wir unter der Besatzungsmacht Auto, aber niemand spricht es aus. Sogar im sehenswerten Film «The Human Scale»1 über Jan Gehl, den berühmten Städteplaner und Förderer autofreier Stadträume, wird die Wahrheit nicht ausgesprochen. Man freut sich über die kleinen Erfolge, über Nischen, die man dem Moloch Auto entreissen kann. Dabei wäre es an der Zeit, ein klares Verdikt auszusprechen: Es gibt keine echte Koexistenz mit dem Auto. Menschen und schnelle Fahrzeuge können nicht gemeinsam leben. Immer wenn schneller Verkehr auftaucht, ist der Lebensraum des Menschen gefährdet, und er muss sich zurückziehen, wenn ihm sein Leben lieb ist.
Das Leben mit einer Besatzungsmacht ist möglich, aber deprimierend. Auch im Paris der Nazis hat man einen Weisswein oder ein Croissant bestellen können. Aber war es das Paris, das man sich gewünscht hatte? Sind das die Städte, in denen wir leben wollen? Sind wir wirklich zufrieden mit Erstklässlern, die wir wie Pinguine in Neonkleider stecken, damit sie nicht totgefahren werden? Oder ist es nicht vielmehr eine Resignation, eine hingenommene Zufriedenheit in einer Bedrohungslage, die wir nicht ändern können?
Es wäre an der Zeit, dem Auto die Gefolgschaft zu verweigern, zum Widerstand aufzurufen. Résistance nannte man das in Frankreich. Keine schöne Tätigkeit. Auch heute wird geächtet, wer das Auto grundsätzlich in Frage stellt, denn die Besatzungsmacht sind wir selber. Wir alle glauben, der tägliche Krieg um Arbeit und Wohlstand sei nur mit dem Auto zu gewinnen. Dieser Kampf nimmt uns dermassen in Anspruch, dass kein Raum mehr bleibt für grundsätzliche Fragen. Nur schon autofreie Quartiere wären ein grosser Gewinn für die Lebensqualität. Aber auch sie scheitern – an unserer Gehetztheit und, ja, Bequemlichkeit.
Niemand zieht das Bedürfnis nach Mobilität in Zweifel. Aber es ist an der Zeit, neue Kriterien aufzustellen. Das Auto ist 100-jährig, seine Logik passt nicht mehr in unsere Zeit. Wir müssen Wege finden, wie unsere Welt wieder humaner wird. Wir müssen das Tabu Auto hinterfragen. Es ist an der Zeit, sich gegen die Besatzungsmacht aufzulehnen.
Filmtipp: The Human Scale. Bringing Cities to Life. Regie Andreas M. Dalsgaard 2014.
Eine Entwicklung, die niemand will; und doch geschieht sie. Das Auto grundsätzlich anzuzweifeln, gleicht einem Tabubruch. Seit fünfzig Jahren ist es Symbol für Wohlstand und Produktivität, trotz aller Nachteile. Auch heute noch assoziiert man das Auto mit Status, Freiheit und Selbstbestimmung. Über die Hälfte der Fahrzeuge sind über den Nutzwert hinaus dimensioniert und lassen sich nur durch emotionale Faktoren erklären. Der Mythos Auto lebt weiter, obwohl es freie Fahrt und Top Speed längst nicht mehr gibt. Die Freiheit findet im Kopf statt, bzw. im Innenraum des Offroaders, des Sportwagens, der Luxuskarosse.
Jährlich sterben weltweit 1,2 Millionen Menschen bei Verkehrsunfällen. Alle Kriege zusammen kommen gemäss WHO auf knapp einen Viertel der Todesopfer. Wie kommt es, dass wir nicht fähig sind, sachlich über ein Monster zu reden, das die Welt massakriert, Lärm macht und aus unseren Wohnorten unwirtliche Zonen? Strassen verhindern die Entfaltung der Kinder, die sich nicht mehr im Quartier bewegen dürfen. Städte werden auseinandergerissen von den Strassenachsen.
Eigentlich leben wir unter der Besatzungsmacht Auto, aber niemand spricht es aus. Sogar im sehenswerten Film «The Human Scale»1 über Jan Gehl, den berühmten Städteplaner und Förderer autofreier Stadträume, wird die Wahrheit nicht ausgesprochen. Man freut sich über die kleinen Erfolge, über Nischen, die man dem Moloch Auto entreissen kann. Dabei wäre es an der Zeit, ein klares Verdikt auszusprechen: Es gibt keine echte Koexistenz mit dem Auto. Menschen und schnelle Fahrzeuge können nicht gemeinsam leben. Immer wenn schneller Verkehr auftaucht, ist der Lebensraum des Menschen gefährdet, und er muss sich zurückziehen, wenn ihm sein Leben lieb ist.
Das Leben mit einer Besatzungsmacht ist möglich, aber deprimierend. Auch im Paris der Nazis hat man einen Weisswein oder ein Croissant bestellen können. Aber war es das Paris, das man sich gewünscht hatte? Sind das die Städte, in denen wir leben wollen? Sind wir wirklich zufrieden mit Erstklässlern, die wir wie Pinguine in Neonkleider stecken, damit sie nicht totgefahren werden? Oder ist es nicht vielmehr eine Resignation, eine hingenommene Zufriedenheit in einer Bedrohungslage, die wir nicht ändern können?
Es wäre an der Zeit, dem Auto die Gefolgschaft zu verweigern, zum Widerstand aufzurufen. Résistance nannte man das in Frankreich. Keine schöne Tätigkeit. Auch heute wird geächtet, wer das Auto grundsätzlich in Frage stellt, denn die Besatzungsmacht sind wir selber. Wir alle glauben, der tägliche Krieg um Arbeit und Wohlstand sei nur mit dem Auto zu gewinnen. Dieser Kampf nimmt uns dermassen in Anspruch, dass kein Raum mehr bleibt für grundsätzliche Fragen. Nur schon autofreie Quartiere wären ein grosser Gewinn für die Lebensqualität. Aber auch sie scheitern – an unserer Gehetztheit und, ja, Bequemlichkeit.
Niemand zieht das Bedürfnis nach Mobilität in Zweifel. Aber es ist an der Zeit, neue Kriterien aufzustellen. Das Auto ist 100-jährig, seine Logik passt nicht mehr in unsere Zeit. Wir müssen Wege finden, wie unsere Welt wieder humaner wird. Wir müssen das Tabu Auto hinterfragen. Es ist an der Zeit, sich gegen die Besatzungsmacht aufzulehnen.
Filmtipp: The Human Scale. Bringing Cities to Life. Regie Andreas M. Dalsgaard 2014.
18. April 2015
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