Wie das Feuer in mir entstand

Als ich mich in die Welt verliebte, #1. Chronologie einer Leidenschaft

Nicolas Lindt, damals und heute, mehr als 50 Jahre später.

Kann man sich in die Welt verlieben? Unser Autor Nicolas Lindt hat zurückgeblickt auf die späten 60er Jahre, als er die Welt immer mehr zu entdecken begann, und er stellt fest: Es war Liebe auf den ersten Blick.

Sein Weg, diese Liebe zu leben, war das Schreiben. Schon mit 14 schrieb er für eine Zeitschrift über die neue Musik aus England, bald darauf publizierte er erste Reportagen in Zeitungen, und sein Tagebuch diente ihm dazu, Alltagsszenen zu schildern und über den Sinn des Lebens zu philosophieren. Daraus wuchs immer mehr eine politische Weltsicht, die ihn während der 70erJahre zum schreibenden Aktivisten machte.

Doch Lindts Reportagen und Texte blieben stets persönlich geprägt. Ob er darüber berichtete, wie er beim Tages-Anzeiger Schreibverbot erhielt, ob er seinen Job im Supermarkt schilderte oder seine Arbeit in einer Notschlafstelle, ob er die Abwanderung auf einer irischen Insel beschreibt oder seine geheime Begegnung mit einem IRA-Terroristen in Belfast – in jeder Zeile wird seine Liebe zur Welt und zu den Menschen aufs neue erkennbar.

Anhand seiner Texte, die ihn wie ein roter Faden begleiten, erzählt Nicolas Lindt die Autobiografie seiner Bewusstwerdung. Er tut es mit viel Humor und Verständnis für den jungen Revoluzzer von damals. Seine Chronologie einer Leidenschaft lässt das bewegte Jahrzehnt nach dem Schlüsseljahr 1968 auf fesselnde und berührende Weise wiederaufleben. «Als ich mich in die Welt verliebte» ist ein Zeitdokument für alle, die damals jung waren – und für alle, die heute jung sind und wissen möchten, wie die Welt vor 50 Jahren erlebt werden konnte. Jetzt lassen wir die Liebesgeschichte beginnen:

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Es war nicht bloss Interesse. Nicht einfach nur Wissensdurst. Es war Neugier.

Ich war gierig auf Neues, ich bin es noch immer. Aber das Neue fand ich nicht im Dorf meiner Kindheit. Ich suchte es in der Welt, und die Welt begann in der Stadt. 14 Jahre alt geworden, wechselte ich aus dem behüteten Küsnacht am Zürichsee ins Wirtschaftsgymnasium nach Zürich.

Es war das Jahr 1968. Kaum zwei Monate nach meinem ersten Schultag in Zürich, an einem Samstagabend Ende Juni, berichteten die Radionachrichten von schweren Krawallen beim Hauptbahnhof. Ich hatte von den Studentenunruhen im Mai in Paris gehört, ich wusste, dass die Jugend in den  westlichen Grossstädten auf die Strasse ging. Aber in Zürich?

Am Sonntagmorgen schwang ich mich auf mein neu erstandenes Velo-Solex, fuhr in die Stadt und fand ein zertretenes Flugblatt, das ich wie eine Trophäe nach Hause trug. Es war ein Überbleibsel jener Eskalation, die als «Globuskrawall» in die Zürcher Geschichte eingehen sollte. Und auch wenn ich damals noch etliche Jahre zu jung war, um schon dabei zu sein, roch ich bereits den Pulverdampf in der Luft.

Mit dem Eifer des erwachenden jungen Menschen spürte ich, dass in Zürich etwas Grosses geschehen war, und ich stürzte mich von da an auf alle Informationen, die ich bekommen konnte. Mein Blick auf die Welt erweiterte sich. Wenn Radio Beromünster die Nachrichten sendete und meine Eltern über das aktuelle Geschehen redeten, hörte ich zu und fragte und begann schon sehr keck, eine eigene Meinung zu haben. Ich entdeckte das Zeitunglesen – auch wenn es die «Neue Zürcher Zeitung» der Eltern war – und fand es spannend und wunderbar, dass ich nicht mehr im braven Goldküstendorf, sondern in Zürich zur Schule ging.

Während der Schock des Globuskrawalls den Behörden noch immer im Nacken sass, verteilten politisch aktive Schüler aus den höheren Klassen am Schulhauseingang die ersten Flugblätter. Ich las jedes Flugblatt, das ich zu fassen bekam. Was darin stand, hatte mit Rebellion zu tun – und der Wunsch nach Widerspruch und Opposition regte sich auch in mir. Doch mein Weg dahin führte nicht über die Politik. Noch nicht.

Der Schlüssel zur Welt war für mich die Musik.
In unserem Wohnzimmer befand sich mitten im Büchergestell neben dem Plattenspieler ein voluminöser Radioapparat. Und mit Radiohören hatte alles begonnen. Die Kinderstunde hatte meine Kindheit begleitet, Hörspiele folgten, Sportreportagen – und dann, mit elf, erschloss sich mir, wieder am Radio, die Welt der Musik. Am Sendeknopf drehend, suchte ich nach der musikalischen Richtung, die meinem Lebensgefühl an der Schwelle zum Jugendlichen entsprach.

Doch Radio Beromünster befriedigte nur die Vorlieben meiner Eltern und ihrer Generation: einerseits Beethoven, Mozart, Vivaldi und Strauss, hauptsächlich aber brave Orchestermusik, Ländler und flotte Märsche, gelegentlich Jazz. Das berührte mich alles nicht, und so drehte ich auf der Senderskala an Beromünster vorbei zu Sendern im Ausland, die wir empfangen konnten.

Die deutschen Stationen, auf die ich stiess, spielten vornehmlich Schlager. Ich hörte Roy Blacks «Ganz in Weiss», Siv Malmqvists «Liebeskummer lohnt sich nicht», Wencke Myhre mit «Beiss nicht gleich in jeden Apfel» – und begriff immerhin schon, dass mit den Äpfeln nicht Äpfel, sondern Mädchen gemeint waren. Es ging um die Liebe, und die Liebe war irgendwie spannend und voller Geheimnis, das spürte ich schon. Doch ich glaubte den süssen Schlagerzeilen kein Wort.

Dann drehte ich weiter auf der Senderskala am Radio – und fand «Salut les copains» auf Europe No 1 aus Paris: eine tägliche Sendung mit Musik nur für die junge Generation. Der Empfang auf unserem Rundfunkgerät war nicht immer befriedigend, aber ich klebte mit dem Ohr am Lautsprecher, staunte über die ungewohnt frechen Moderatoren, hörte die neuesten französischen Chansons von Sylvie Vartan, Michel Polnareff, Françoise Hardy und Jacques Dutronc – und lernte dabei sogar noch Französisch.
Aber auch diese Liedchen trafen nicht den Kern meiner Sehnsucht.

Die erste, aus dem eigenen Taschengeld erstandene Schallplatte war Drafi Deutschers «Marmor Stein und Eisen bricht», ein unwiederbringlicher Volltreffer, ein Jahrhundertwerk, auch heute noch, Jahrzehnte danach, zugleich aber auch der Beginn einer menschlichen Tragik, die schon vielen Musikern zum Verhängnis wurde. Drafi Deutscher hat es danach nie mehr geschafft, etwas vergleichbar Grosses zu schaffen. Sein eigener Song war grösser als er. Bis zu seinem Tod musste er an jedem seiner Auftritte – ob er wollte oder nicht – Marmor, Stein und Eisen brechen.

Ich kaufte die Platte 1965 in unserer Migros-Filiale, wo es neben der Kasse einen Ständer mit Single-Schallplatten gab. Sie kosteten alle 3.90 CHF. Doch es sollte der einzige Schlager in meiner späteren Schallplattensammlung bleiben. Denn jetzt geschah es. Auf den deutschen Sendern und vor allem auf Europe No 1 mischten sich in die Schlager und Chansons immer mehr andere Töne. Härtere Töne. Die neue Musik aus England erreichte den Kontinent. In einem Hörerwettbewerb des deutschen Südwestfunks gewann ich meine zweite eigene Schallpatte: «Long Tall Sally» von den Beatles.
Von diesem Moment an interessierten mich Schlager nicht länger. Beat war aufregender. Direkter. Und ehrlicher.

Die Beatles hatten das Feuer in mir entzündet. Wer es richtig auflodern liess, dazu mehr in der nächsten Folge von «Als ich mich in die Welt verliebte».

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«Die neuen Folgen von «Als ich mich in die Welt verliebte», erscheinen jeweils sonntags an dieser Stelle.