Reden Sie seit einem Jahr auch weniger mit anderen Menschen? Haben Sie immer wieder Tage, in denen Sie kaum jemandem begegnen und den früher so normalen kurzen Schwatz auf der Strasse oder im Café kaum noch führen?
Also: Ich ging gestern auf einen kleinen Spaziergang durchs Viertel. Schlenderte gedankenversunken durch die Strassen, um ein wenig an der frischen Luft zu sein, nach den vielen Stunden Homeoffice. Plötzlich passierte etwas Unfassbares: Ein Mensch spach mich an, fragte nach einer Strasse. Ich erschrak total, wurde aus meiner Corona-Blase herausgerissen. Hat jemand mit mir geredet? Gibt es ausser mir und meinen Freunden noch andere Menschen? Aufgeschreckt und überfordert blickte ich die Frau an, drehte mich um und ergriff die Flucht. Zu Hause in Sicherheit setzte ich mich erst mal hin. Dachte nach, was mir gerade eben passiert ist. Und stellte fest: Ich habe im Coronajahr die lockere und unbedarfte zwischenmenschliche Kommunikation verlernt.
Die Coachin und Podcasterin Kafi Freitag aus Zürich hat schon im vergangenen Jahr dieses Phänomen sehen kommen und deswegen die Plattform «Binenand» ins Leben gerufen. «Unsere Freunde und Liebsten fehlen uns, doch während des normalen Alltags spricht man nicht nur mit Menschen, die man kennt. So vermisst mancher das spontane, lockere Gespräch mit Fremden in der Bibliothek oder auf dem Spielplatz», so die 45-Jährige.
Auf binenand.com kann jede und jeder mit Fremden ein paar Minuten plaudern. Das Konzept: Per Knopfdruck wird man mit einer zufälligen Person verbunden und beginnt ein Gespräch. Nach drei Minuten wird man unterbrochen und muss entscheiden, ob man die Konversation weiterführen oder beenden will. Ganz ohne Zwänge und Erwartungen. Endet es nach drei Minuten, hat man Small Talk geübt. Plaudert man weiter, könnte daraus gar ein längeres unterhaltsames Gespräch entstehen, das einen geselligen Moment mit sich bringt. Täglich finden die Gespräche um 9 Uhr morgens, dann um 16, 20 und 23 Uhr statt.
Das Spezielle an Binenand: dass es nur auditiv und anonym ist. Das Aussehen spielt keine Rolle. Ob man für den sozialen Kontakt gekämmt und gestriegelt ist, ebenso nicht. Es geht auch im Pyjama. Die Gespräche sind anonym, unkompliziert und vor allem: zufällig. Dies bringt Menschen näher zueinander und ermöglicht einen Austausch, zwischen Jung und Alt, Mann und Frau.
In der Schweizer Frauenzeitschrift Annabelle wird Kafi Freitag zitiert: «Es wäre extrem schön, wenn sich auf Binenand Menschen finden würden, die sich gegenseitig guttun.» So dass man sich gegenseitig durch die Coronakrise lotsen könne und im besten Fall danach sogar weiter befreundet bleibe. Auf Binenand kommunizieren, das tun auf jeden Fall seit Frühjahr 2020 viele Menschen.
Wär dies nicht auch was für Sie?