«Wir sehen uns an der Kante!»
«Chapeau» vor dem Waldpädagogen und Aktivisten Michael Zobel. 100 mal hat er zu monatlichen Wald- und Dorfspaziergängen in Hambacher Forst, Lützerath und anderen zerstörten Heimatorten eingeladen. Dabei hat er insgesamt 80.000 Menschen über den Flächenfrass im rheinischen Braunkohletagebau informiert, über Konzernwillkür, Staatsgewalt - und schliesslich auch über die Doppelmoral der Grünen.
Soll ich wirklich noch einmal positiv über einen Klimaaktivisten berichten? Inzwischen ist doch bekannt, wie einseitig und fehlgelenkt Klimaproteste sind. Aber dieser Aktivist ist etwas Besonderes – ich kenne kaum einen anderen Menschen, der sich so geduldig, kontinuierlich und umfassend konsequent für das einsetzt, was er liebt: in diesem Fall für den Wald.
Ich ziehe diesmal den Hut vor Michael Zobel. Der Geologe und zweifache Vater und Grossvater führt als selbständiger Waldpädagoge Kinder und Schüler durch Natur und Wälder. Menschen in die Natur zu führen und ihnen die uralten Zusammenhänge nahezubringen, das war ihm stets wichtiger als Karriere. Doch genau dieser Natur wurde durch den Braunkohletagebau buchstäblich der Boden weggerissen. Während seine ehemaligen Studienkollegen sich um Jobs beim Energieriesen RWE bemühten, wurde er dessen hartnäckigster Gegner. Mit seinen inzwischen 100 monatlichen Wald- und Dorfspaziergängen durch die bedrohten und zerstörten Landschaften seit acht Jahren wurde er zur beständigsten Figur im Widerstand rund um Hambacher Forst und Garzweiler 2.
Im Hambacher Forst - die Idylle trocknet langsam aus.
Braunkohlentagebau im Rheinland
Das "Rheinische Revier" ist das grösste Braunkohlen-Abbaugebiet Europas. Knapp 100 Millionen Tonnen werden in den bis zu 400 Meter tiefen Tagebauen jährlich gefördert. Geht es nach der RWE, soll der Abbau bis zum Jahre 2045 weiter gehen. Mehr als 2,5 Milliarden Tonnen Braunkohle sollen danach noch gefördert werden. Allein im Rheinland sollen bis zum Jahre 2038 etwa 45.000 Menschen zugunsten der Braunkohlengewinnung aus ihrer Heimat vertrieben worden sein. Mindestens 130 Ortschaften und Weiler mit zum Teil Jahrtausende alter Siedlungskontinuität werden dann zerstört sein. Auch wenn sie an anderer Stelle wieder neu entstehen: eine gemeinsame Umsiedlung bleibt meistens Fiktion, ebenso wie der Erhalt sozialer Strukturen.
Als ich erstmals den inzwischen legendären Hambacher Forst besuchte, wollte ich die jungen Leute treffen, die dort in Baumhäusern lebten, dessen Abholzung und die Erweiterung des «grössten Lochs der Welt» verhindert hatten. Wer mich aber dann wirklich beeindruckte, war das Paar, das uns Journalisten und andere Neugierige mit grosser Umsicht und Ruhe die Zusammenhänge erklärte und zeigte. Der baumlange Waldpädagoge Michael Zobel – stets mit dem charakteristischen Hut bekleidet und nie um Anekdoten und Argumente verlegen – und seine etwas zurückhaltendere Partnerin Eva Töller schienen eine Art Eltern- oder sogar Grosselternfiguren für die Baumbesetzer zu sein. Hundertmal – acht Jahre lang jeden Monat, ob Schnee, ob Sturm oder Corona – luden sie zu Wald- und Dorfspaziergängen ein. Sowohl im «Hambi» als auch in von der Räumung bedrohten Dörfern wie derzeit Lützerath, das aktuelle Symbol des Widerstands. Manchmal kamen ein paar Dutzend, manchmal einige tausend, darunter Neugierige, Aktivisten und Gewerkschafter, Politiker, Journalisten und einmal der Polizeipräsident.
Schaufelradbagger für den Braunkohleabbau
Unvergessen der Moment, wo sie unsere kleine Gruppe durch den lieblichen Eichen- und Hainbuchenwald an die Rodungskante führen. Da stehen wir – fassungslos – weit unter uns gähnt eine Mondlandschaft, deren groteske Dimensionen für das Auge kaum schätzbar sind. 450 m tief ist das Hambacher Loch. Dreimal würde der Kölner Dom übereinander hinein passen. All das war einmal Heimat für Menschen und Tiere, waren Bauernhöfe, Bäche, Dörfer, Wälder, Kirchen, Sportplätze, Erinnerungen. «Wenn ich in Dörfer komme, die ja weiterhin abgerissen werden sollen, dann fangen manchmal die Menschen an zu weinen, weil sie ihr Haus verlassen müssen.»
Abbruchkante beim Hambacher Forst
Aber wie können sie das geschehen lassen? Warum gibt es nicht viel mehr Widerstand in den Dörfern? «Die RWE war immer geschickt in ihrer Überzeugungspolitik. So erhielten ausweichwillige Dörfer auf einmal eine neue Flutlichtanlage für ihren Sportplatz oder andere Vergünstigungen und Versprechen, und schon war der Widerstand aufgeweicht.»
Wegen der seltenen, im Hambacher Forst heimischen Bechsteinfledermäuse bekamen die Aktivisten vor fünf Jahren Recht: Der Wald – mit 500 Hektar ohnehin nur noch 10% seiner ursprünglichen Grösse – darf nicht abgeholzt werden.
«Dafür lassen sie ihn gnadenlos vertrocknen», erklärt Zobel. «Durch die Kante strömt das Wasser ungehindert hinaus – wie aus einer Tasse, die an einer Seite offen ist.»
Ohne Not habe die RWE bis 50 Meter an den Wald herangegraben. 450 Millionen Kubikmeter Wasser darf der Konzern hier jedes Jahr abpumpen. Mit dieser Wassermenge käme eine Stadt wie Düsseldorf vier Jahre lang aus. Inklusive Industrie, betont Zobel. Er zeigt uns im Wald ehemals üppige Feuchtgebiete, in denen heute die Bäume und Brennesseln trocken rascheln. Wie soll der Wald das überleben! In ihm leben 142 geschützte Tierarten, darunter zwölf Fledermausarten. Auf alles hat der Geologe Antworten, nie bleibt er eine Antwort schuldig, er kennt sich aus sowohl in ökologischen Zusammenhängen als auch in allen Details des Rechts und Widerstands.
Im Oktober trat er aus der Partei der Grünen aus. Denn mit den Stimmen der Grünen wurde die Räumung von Lützerath beschlossen. Zobel: «400 Menschen in Lützerath waren voller Hoffnung, dass der Ort doch noch erhalten werden kann, wie es der Bundestag im Juli beschlossen hatte. Dass endlich die Bagger stoppen und die Vernichtung unserer Lebensgrundlagen zumindest hier ein Ende hat. Doch jetzt wurde der Öffentlichkeit erklärt, warum Lützerath nun doch geräumt und vernichtet werden muss. Gegen unabhängige Gutachten, die belegen, dass die Kohle unter Lützerath trotz Krise nicht mehr gebraucht wird, gegen anderslautende Versprechen im Wahlkampf. Ein Schlag in die Magengrube so vieler Menschen, die die Grünen gewählt haben, um endlich eine wirkliche und konsequente Bekämpfung der Klimakatastrophe möglich zu machen.»
Am 25. September hielten Zobel und Töller den letzten ihrer monatlichen Wald- und Dorfspaziergänge. Sie wollen sich auf andere Aktionen besinnen und nur noch gelegentlich Gruppen einladen. Zwar fühlen sie sich weiterhin dem Widerstand verbunden, aber sie suchen auch positive Ansätze für den umfassenden Systemwandel. Auch haben sie andere Aktivisten eingelernt, die die Spaziergänge übernehmen. Am Samstag, den 10. Dezember, gibt es den «Wintermarkt» und am Sonntag, 11. Dezember um 11:30 Uhr einen Dorfspaziergang in Lützerath - wie jeden Sonntag. Michael Zobel und Eva Töller werden ihre Nachfolger immer wieder dabei unterstützen. Und wenn im Januar die Bagger Lützerath zerstören sollen, dann wird es mit Sicherheit wieder heissen: «Wir sehen uns an der Kante.»
Lützerath
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