Zwischen Pest und Cholera

Was ist das für eine Gesellschaft, in der es bei einer Pandemie nur um die Wahl geht zwischen zwei katastrophalen Folgen? Geht die Wirtschaft wieder los, steigt die Todesrate. Geht die Wirtschaft nicht wieder los, werden Existenzen vernichtet.

Eine ungemütliche Lage: krank oder in existentiellen Nöten? / zvg

Wie viele Tote hätten wir denn gern? Dürfen es ein wenig mehr sein, damit die Unternehmen wieder auf breiter Front loslegen können? Oder sind die deshalb Gestorbenen dann doch zu viele, weil sie befürchten lassen, dass das Corona-Virus wieder Oberwasser bekommt und zu große Teile der Bevölkerung mit dem Tod bedroht?

Das sind, vorsichtig formuliert, trostlose Alternativen – zwischen Pest und Cholera sozusagen. Die öffentliche Debatte in den einschlägigen Talkshows und Medien dreht sich aber genau darum. Und niemand wird an den notwendig fatalen Folgen irre. Ganz ernsthaft werden Überlegungen auf Basis von Schätzungen angestellt: Wenn wieder Geschäfte und Gaststätten öffnen, die Unternehmen die Produktion hochfahren, wie wird sich das wohl auf die Infektionsrate und die Todesfälle auswirken? Das kann natürlich niemand wissen. Also fährt man "auf Sicht" und hofft, dass die Abstands- und Hygieneregeln trotz der verbesserten Infektionsbedingungen für Corona schon das Schlimmste verhindern.

Wenn der Profit gestoppt wird, hat es sich mit der Verteilung der Güter

Seit dem Beginn des "Lockdowns" Mitte März sind in Deutschland und in der Schweiz die anfänglich besorgniserregend ansteigenden Pandemie-Daten tatsächlich deutlich gesunken. Das Aussetzen von Arbeit und sozialen Kontakten hat die beabsichtigte Wirkung gezeitigt.

Dumm nur, dass in einer Wirtschaft namens Kapitalismus der Stopp von gewinnbringender Herstellung verkäuflicher Waren und Dienstleistungen verheerende Folgen hat. Das angeblich beste System zur Verteilung von Gütern in der Gesellschaft droht zu kollabieren. Die Beschäftigten verlieren ihr regelmäßiges Einkommen, stehen damit von heute auf morgen mit leeren Händen da. An viele Güter kommen sie daher in absehbarer Zeit nicht mehr heran, es fehlt dann schlicht das Geld dafür.

Solo-Selbstständige, Einzelhändler, Klein-Unternehmer gehen die Kunden verloren, es droht das Aus. Größere Firmen und Konzerne müssen ihren Betrieb einstellen, benötigen wie Lufthansa, Deutsche Bahn oder die Autoindustrie staatliche Hilfen fürs einstweilige Überleben. Mit Stellenstreichungen und Kurzarbeit tun sie selbstverständlich auch alles ihnen Mögliche zum Erhalt des Unternehmens.

Das ist alles leidlich bekannt. Die Liste der durch die Anti-Pandemie-Maßnahmen des Staates in die Bredouille geratenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ist lang. Verzweifelt sind beide Lager, nur recht unterschiedlich aufgrund ihrer ökonomischen Position: Arbeiter und Angestellte wissen nicht, wie sie nun ihre laufenden Lebenshaltungskosten bezahlen sollen. Unternehmer wissen nicht, ob ihre Rücklagen beziehungsweise Staatskredite reichen, bis sie wieder ihre Arbeiter und Angestellten rentierlich beschäftigen können. Was auch voraussetzt, dass die Lieferketten wieder funktionieren und es genügend zahlungsfähige Käufer auf dem Markt gibt, national und international.

Bitte alles wieder "normal"! Das war doch so schön

In Anbetracht dessen ist es doch nur zu verständlich, dass so bald wie möglich wieder normal gewirtschaftet wird? Doch was bedeutet "normal"? Offenbar, dass auf Geld alles gründet. Und dass, um an Geld zu kommen, etwas gewinnbringend verkauft werden muss – und sei es nur die Arbeitskraft, weil der Mensch mehr nicht zur Verfügung hat (für sie springt dabei allerdings kein Gewinn heraus, sondern ein Lohn, der bestenfalls für ein, zwei Monate Leben reicht).

In einer um sich greifenden Pandemie nimmt ein solches Wirtschaftssystem sofort großen Schaden, wenn die Geldmaschine angehalten wird. Sei es staatlich verordnet – oder durch ein ungebremstes Wüten des Virus im Volk, so dass in absehbarer Zeit nicht mehr genügend Leute für die Herstellung der Güter und damit des Profits vorhanden sind.

Wo Geld alles ist, ist Zwangsfreizeit kein Spaß

Wäre es da nicht eher normal, sich so lange wie medizinisch geboten auf die lebensnotwendige Produktion zu beschränken, das Gesundheitssystem hochzurüsten und ansonsten unter Einhaltung der Abstands- und Hygienenotwendigkeiten die arbeitsfreie Zeit zu genießen? Ach so, das geht nicht, ist vollkommen unrealistisch? Von welchem Geld sollen wir leben? Und wer soll denn die vielen Waren und Dienstleistungen kaufen, von denen die Unternehmen ihren Profit ziehen? Ganz zu schweigen von den prekären Wohn- und Lebensverhältnissen vieler Menschen, für die auch deshalb Zwangsfreizeit kein Spaß ist.

Da im Kapitalismus die gesamte Gesellschaft vom Geldverdienen abhängt, wirft das Anhalten dieser Sorte Wirtschaft sofort Existenzfragen auf. Nicht, weil die Produktionsanlagen zerstört sind oder nicht mehr funktionieren. Sondern weil der Markt zur Versilberung der Waren dramatisch geschrumpft oder sogar geschlossen ist. Es gibt daher zu wenige bis keine zahlungsfähigen Käufer.

Der Druck, diesen gefährlichen Zustand aufzuheben, ist entsprechend hoch. Daraus erklärt sich die fraglose Selbstverständlichkeit in der öffentlichen Diskussion zu Lockerungen des Lockdowns: Natürlich müssen "wir" so schnell wie möglich "da raus"!

Das Trostlose an der "Lockerungs"-Debatte: Alle haben sie recht! Die Unternehmerverbände, die eine nie dagewesene Pleitewelle befürchten. Die Gewerkschaften, die darin einstimmen, weil sie sich das Glück ihrer Mitglieder nur in der Arbeit für den Profit anderer vorstellen können. Die Epidemiologen, die vor einem Anstieg der Infektionen und Todeszahlen warnen. Die Politiker, die hin und her pendeln – zwischen wieder florierender Wirtschaft einerseits und der Sorge andererseits, dass dafür das Volk in ausreichender Zahl zur Verfügung bleibt. In erster Linie zählen dazu die Kapitalisten, ihre Beschäftigten und zahlungsfähigen Konsumenten; aber, so viel Ethik muss sein, auch die Untätigen werden berücksichtigt.

Der Kern der Frage und der daraus folgenden Debatte: Welche Infektions- und Todesrate kann sich Deutschland leisten? Die unangenehme Antwort: Kommt eben darauf an, siehe oben.

Kommentare

Nicht im Trüben fischen!

von Thomas Freiwort
Lieber Björn, Du hast mit Deinem Kommentar den Nagel mittig auf den Kopf getroffen! Cool, tausend Dank, schauen wir ob die Gesellschaft dafür reif ist oder immer noch an die ewige Wirtschaftsspirale glaubt! DER ZEITPUNKT zur Veränderung verkürzt sich wie die Nadel zur Einstichsstelle! Es lebe die friedliche Umwälzung, weiter so Herr Pfluger und dass die NZZ (Nicht Zertifizierte Zoten) weiterhin im trüben fischt, herzlichst Thomas Freiwort