Ist Putin ein Vergewaltiger?

Disput mit einem Traumatherapeuten über den Ukrainekrieg. Die Samstagskolumne.

Foto: Mododeolhar (Pexels)

In meinem Blog auf connection.de schrieb ich unter der Überschrift «Kriege um Grenzen» am 18 August: Die WP (Washington Post) schreibt über den Ukrainekonflikt viel weniger biased (parteiisch) als die deutschen sogenannten Qualitätsmedien. Witzig, dass solche nur wenig parteiische Sicht ausgerechnet aus der «Hauptstadt des Imperiums» kommt. Ausserdem ist dieser WP-Text informativ und wesentlich: Er vergleicht den aktuellen Stellvertreterkrieg in Südosteuropa mit den Grabenkämpfen an der Westfront im Ersten Weltkrieg.

Was mir jedoch auch hier fehlt, ist die Erwähnung der Relativität von Grenzziehungen. Mein Sommerurlaub hat mich heuer wieder ins Elsass geführt. Gehört das «eigentlich» zu Deutschland? Niemand in Deutschland würde heutzutage deshalb einen Krieg führen wollen, und doch ist es erst 110 Jahre her, dass die Mehrheit der Deutschen einen solchen Krieg für richtig hielt. Heute hält die Mehrheit der Deutschen, es für richtig, um die Krim und den Donbass einen Krieg gegen Russland zu führen bzw. einen solchen mit Waffen und Kriegspropaganda zu unterstützen.

Es gibt solche und solche Dialoge

Daraufhin antwortete mir einer meiner Leser, der mir schon mehrfach im Blog intelligente Kommentare hinterlassen hatte. Von Beruf ist er Arzt und Psychotherapeut und lebt in einer mitteleuropäischen Grossstadt. Nennen wir ihn Manfred.

Diesmal funktionierte die Kommentarfunktion meines Wordpress-Blogs nicht, deshalb tauschten wir uns per E-Mail aus. Wir grüssten uns dabei jeweils freundlich und endeten unsere Mails meist mit «herzlich». Wir mögen uns, das war spürbar, und doch trennen uns Weltanschauungen.

Als ich zum ersten Mal in meinem Blog gegen Waffenlieferungen in die Ukraine Position bezog, antwortete mir eine Leserin, die mich schon lange kennt und mein Denken bisher überwiegend mit Wertschätzung verfolgte, mir habe wohl jemand ins Hirn geschissen. Manfreds Antworten waren freundlicher und für mich gut nachvollziehbar, und doch: Mein Fazit ist ein anderes.

Den Dialog habe der Lesbarkeit zuliebe leicht redigiert und gekürzt, ohne unsere Positionen zu ändern.

Lieber Wolf
Wer führt wohl Krieg gegen wen in der Ukraine?
(Fettschreibung von ihm)
Manfred


Lieber Manfred,
Dein Kommentar tönt ja wie so viele in den Mainstream-Medien. Willst du wirklich, dass ich ihn beantworte?

Wolf


Deine Gedanken erinnern mich sehr an «alternative Medien» – wenn wir bei diesen idiotischen Ausdrücken bleiben wollen.

Von dir hätte ich mehr erwartet. Doch so ist es halt – ich muss mich immer mehr daran gewöhnen und äussere mich auch nur noch selten. Wenn ein 68er die Welt nicht mehr versteht, dann kommt das so raus: Resignation.

Manfred


Ebenso: Von dir hätte ich mehr erwartet! Da ist wieder diese gesellschaftliche Kluft. Sie ist in der Pandemie entstanden oder war schon länger da. Nun ist der Ukrainekrieg hinzugekommen, auch der spaltet uns. Ist diese Kluft überbrückbar? Mein Hinweis auf das Transnarrative versucht das unablässig. In den Raum hinter den Erzählungen zu schauen, darauf setze ich meine Hoffnung. Denn auf der logischen, ethischen oder militärischen Ebene – das habe ich versucht –, glaube ich nicht, dass ich dich und deinesgleichen überzeugen kann, dass Deutschland den Ukrainekrieg nicht mit Waffenlieferungen anheizen sollte.

Wolf

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Foto: Viele Demonstranten im Westen sehen Putin als «Monster»

Wer dem Opfer nicht hilft, macht sich mitschuldig

Für mich gibt es – als Mensch, Arzt, (Trauma-)Therapeut – nur ganz wenige Regeln. Eine ist, dass Vergewaltigung immer ernst genommen werden muss, dem Opfer immer Unterstützung gegeben werden muss, es gestützt und beschützt werden muss. Sonst machen wir uns mitschuldig. Es gilt, die Würde des Opfers zu schützen.

Wenn es dann aus der Phase der Bedrohung heraus ist, dann kommt der Prozess, es aus der Opferrolle zu führen. Du kannst das eins zu eins übertragen. Ich denke kaum, dass wir uns nicht einig sind, dass die Aggression von Putin gegen die Ukraine meinem Beispiel entspricht. Das ist meine Grundlage.

Ich hoffe sehr, dass sich nicht zu viele Menschen mitschuldig machen. Bei uns läuft auch so ein «Prozess» bei denen, die meinen sie seien die Aufrechten. Licht im Dunkeln ist für mich der Roman «Über Menschen» von Juli Zeh; ich nehme an, auch du hast ihn gelesen.

Manfred


Ich bin ganz entschieden der Meinung, dass Putins Aggression gegen die Ukraine nicht mit einer Vergewaltigung zu vergleichen ist.

Vielleicht magst du nochmal darüber nachdenken, was den Wert der körperlichen Unversehrtheit eines Individuums von den künstlich von Grossmächten gezogenen, die Realität der Völker ignorierenden Grenzen auf einer Landkarte unterscheidet.

Wolf


Nein, Krieg ist mit einer Vergewaltigung nicht zu vergleichen, denn er ist noch unendlich viel schlimmer. Wenn du als Mensch das nicht siehst, kann ich das nicht ändern. Ich hoffe, wir kommen selbst nie in so eine Notsituation und können vom Bürostuhl aus unsere feinen Meinungen haben.

Manfred


Ja, Krieg ist schlimmer als eine Vergewaltigung. Und wenn viele Menschen denken, ein Aggressor wie Putin müsse wie ein Vergewaltiger behandelt werden, dann wird es noch viele weitere solche Kriege mit Hunderttausenden von Menschenopfern geben, was durch klar unterscheidendes Denken zu vermeiden wäre.

Wolf


Ich staune einfach, wie wenige Deutsche aus der Vergangenheit gelernt haben. Kann man denn die 30er Jahre einfach verdrängen für Ideale, die es leider nicht gibt? Die Verkennung der menschlichen Natur ist wohl das grösste Problem, das uns beschäftigt. Das sagt ein – scheinbar ehemaliger – Pazifist, der meint, etwas dazu gelernt zu haben.

Wir werden uns leider – leider sage ich, weil ich dich als zu den «Meinen» gehörig empfinde – nicht finden bei diesem Thema.

Manfred

Damit endete unser Dialog, denn ich wollte ihn lieber öffentlich führen, weil ich glaube, dass dieses Thema, so sehr es «uns» spaltet, viel mehr Menschen interessiert. Ich werde Manfred dann den Link schicken, sodass er meine letzte Antwort auch noch lesen kann:

Lieber Manfred, auch wenn ich deinen Pessimismus gut nachvollziehen kann, teile ich ihn nicht und antworte dir auf deinen Hinweis auf die 30er Jahre. Wir alle glauben ja aus den 30er Jahren unsere Lektion in Antifaschismus gelernt zu haben: Nie wieder Krieg! Nie wieder Diktatur! Die einen sagen deshalb: Wir dürfen keine Waffen in ein Kriegsgebiet liefern! Die Anderen: Habt ihr denn nicht aus dem Münchner Abkommen von 1938 gelernt, dass man einem Grössenwahnsinnigen nicht nachgeben darf?

Die meisten Ländergrenzen sind unnatürlich

Ich will hier auch nochmal auf den Vergleich mit der Vergewaltigung zu sprechen kommen, weil ihn so viele machen und auf so unreflektierte Weise. Die physische Unversehrtheit des Körpers ist zu schützen. Klar, dass wir uns darin einig sind. Wenn mir jemand in die Fresse hauen oder mich vergewaltigen will, dann darf ich mich verteidigen.

Ländergrenzen sind aber was Anderes als die Haut um ein menschliches Individuum. Sie sind das, was ein Leuchtglobus zeigt, wenn man das Licht anschaltet. Ohne das Licht sieht man «die Wirklichkeit»: die geografische Wirklichkeit der Flüsse und Berge. Mit dem künstlichen (!) Licht, sieht man die von Machtmenschen auf ihren Landkarten gezogenen politischen Grenzen, die sie dann mit Waffengewalt verteidigen und oft auch zu erweitern suchen.

Diese Grenzen entsprechen allzu oft nicht der Realität und dem Willen der dort wohnenden Menschen. Beispiel: die Krim. Die Krim nun mit Bomben, Drohnen und Marschflugkörpern, F 16 Jets und sogar Streumunition «zurückerobern» zu wollen, halte ich für falsch, inhuman und nicht einmal zielführend, was die Ziele der Regierung in Kiew anbelangt.

Fast möchte ich sagen: Dieses Vorgehen ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und doch wird es von 'unseren' Regierungen unterstützt. Unter anderem, weil viele von uns denken, wenn sie das nicht täten, müssten sie logischerweise auch ein tatenloses Zusehen bei Vergewaltigungen gutheissen. 

Die integrale Sicht

Und noch ein Einwand, hier aus der integralen Sicht der Spiral Dynamics. Die Befürworter der Waffenlieferungen scheinen mir die Bedeutung des «blauen Mems» (das Einhalten von Regeln: Gut ist gut, und böse ist böse, Ende der Diskussion) überzubewerten. Autokraten wie Putin dürfen «wir» solche Aggressionen wie sein Angriff gegen die Ukraine nicht einfach durchgehen lassen.

Einverstanden. Es gibt aber auch noch das «orangene Mem», das da fragt: Ist ein Waffeneinsatz der Nato-Länder gegen Russland in diesem Falle zielführend? Nein, denn es ist ein Abnutzungs- und Stellungskrieg entstanden wie einst in Verdun. Und dann gibt es auch noch das «grüne Mem», das da sagt: Auch die Minderheit der auf dem Gebiet der Ukraine lebenden Russischsprachigen muss gehört und respektiert werden. Und schliesslich gibt es «the second tier», die zweite Ebene, auf der alle die eben genannten Ebenen oder Perspektiven für wichtig gehalten werden:

1. Autokraten dürfen nicht einfach andere Länder angreifen. Wir brauchen eine internationale Ordnung, die das effektiv verhindert. Die erlaubt dann allerdings auch den USA solche Angriffe nicht.

2. Die Unterstützung der Ukraine gegen Russland sogar in Bezug auf deren Ziel, Russland zu besiegen, ist «nicht zielführend» und schafft unendliches menschliches Leid.

3. Auch Minderheiten sollten respektiert werden: Wenn die Bewohner der Krim zu Russland gehören wollen, lass sie! Wenn die Bewohner des Donbass innerhalb der Ukraine eine autonome Region bilden wollen, so wie Katalonien oder das Baskenland innerhalb von Spanien, lass sie! Selbst wenn die Region sich dann abspalten sollte, so wie die Slowakei einst aus der Tschechoslowakei – lass sie ziehen!

Nun ist aus meiner Antwort an Manfred ein viel längerer Text geworden, als ich wollte. Sorry Manfred, dass du hier nicht das letzte Wort hast – ich würde es dir gönnen! Vielleicht kommt ja noch ein Leserbrief von dir an den Zeitpunkt, das ist meine Hoffnung. Damit hättest du in diesem Dialog das letzte Wort.

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