Ausnahmen bestätigen die Regel, sagt der Volksmund, und Joachim Walter* fügt hinzu: Es gibt gar keine menschengemachte Regel ohne Ausnahme! Selbst das Gebot: Du sollst nicht töten! erlebt im Krieg seine angeordnete Ausnahme. Von Erziehung bis Strassenverkehr, nichts würde funktionieren unter Einhaltung aller Regeln und Gesetze. Selbst Natur- und mathematische Gesetze möchte er nicht mit absoluter Sicherheit als ausnahmslos deklarieren. Wer weiss, ob der Satz des Pythagoras im Kosmos unter allen Umständen Bestand hat ?
Joachim Walter hat viel zu erzählen über das beherzte In-die-Hand nehmen von Ausnahme und Risiko. Ebensogut kann man sich mit ihm allerdings über späte Beethoven Klavier-Sonaten, Geopolitik oder den Motor einer Harley-Davidson unterhalten. «Nur ein Frauenversteher bin ich nicht», sagt er mit einem Lächeln zu seiner Frau hinüber.
Aber straffällige junge Männer, die versteht er gut! Die vertritt er noch heute in seiner Anwaltskanzlei, nachdem er viele Jahrzehnte Jugendstrafgefängnisse geleitet hat und in der ganzen Welt für ein Umdenken in Sachen Jugendstrafvollzug geworben hat. Im Sommer kommt im Westend-Verlag sein Buch heraus, in dem er Schicksale beschreibt, die ihm in seinem langen Leben begegnet sind.
Anna-Sophie: Ist das Thema Regel und Ausnahme Handwerkszeug für jeden Juristen oder ist das eher Joachim Walters Spezialgebiet?
Joachim: Beides. Handwerkszeug für einen Juristen ist es allemal, weil es unendlich viele Vorschriften gibt, also Regeln, die auch Ausnahmen haben. Die lauten in der juristischen Sprache oft: es sei denn, dass ... In sehr vielen Vorschriften sind schon die Ausnahmen im Recht selber enthalten, sozusagen als legale Ausnahme. Also beispielsweise darf man keinen anderen Menschen verletzen, es sei denn, der greift mich an, dann ist es Notwehr. Oder ich darf fremde Häuser nicht mit dem Feuerhaken einreissen, es sei denn, dort brennt es und das Nachbarhaus ist gefährdet. Oder ich darf anderer Leute Grundstück nicht betreten, es sei denn, ich muss einer Person Hilfe leisten, die dort verunfallt ist. Dann darf ich das. Also es gibt viele, viele Ausnahmen, und das weiss auch jeder Mensch.
Anna-Sophie: Also das ist alles Bestandteil eines juristischen Studiums?
Joachim: Ja. Dann gibt es aber auch Ausnahmen, die sind nicht ausdrücklich vorgesehen. Und es gibt es ungeschriebene Regeln, die jeder kennt: In der Kirche schreit man nicht laut herum! So die Regel. Das heisst aber nicht, dass es nicht eben doch mal vorkommen kann, dass man laut schreit, wenn nämlich jemand sich am Kruzifix zu schaffen macht und das zerstören will oder sowas. Man kann es auch so sagen: Es gibt überhaupt keine Regel, die Menschen gemacht haben, die keine Ausnahme kennt.
Anna-Sophie: Kannst du dich erinnern, in welchem Moment das Thema unabhängig von dem, was du studiert hast, für dich konkret wurde? Wann warst du das erste Mal in einer Situation, wo du gemerkt hast: Jetzt verantworte ich die Ausnahme?
Joachim: In dem Moment, wo du in die berufliche Praxis eintrittst, in meinem Fall also in den Justizvollzug, ins Gefängniswesen, aber auch in die Staatsanwaltschaft. Da wird man sofort mit so etwas konfrontiert. Im Gefängnis ist es so, dass praktisch ab dem ersten Tag Ausnahmen von den vielen Regeln gemacht werden müssen.
Anna-Sophie: War das Thema für andere Anstaltsleiter, deine Vorgänger und Nachfolger, genauso präsent wie für dich? Oder war es dein besonderer Mut, solche Ausnahmen zu verantworten? Das ist ja auch ein Risiko.
Joachim: Ja, ich habe wohl mehr Ausnahmen gemacht als andere, weil ich nicht so Vorschriftenorientiert bin. Sehr viele Menschen, die im Staatsdienst arbeiten, tragen die Vorschriften wie ein Schutzschild vor sich her. Die verstecken sich dahinter, weil das vor persönlicher Verantwortung schützt. Wenn ich eine Vorschrift habe, auf die ich mich berufen kann, dann trage ja nicht ich die Verantwortung, sondern der, der die Vorschrift gemacht hat. Doch wenn ich von einer Regel abweiche, dann muss ich mich fragen lassen, mit welcher Begründung und wie das zu rechtfertigen ist.
Ich habe mal bei einer Geiselnahme im Gefängnis angeordnet, dass wir mit eigenen Kräften dagegen vorgehen. Es war erfolgreich, unblutig. Die Vorschrift lautet aber anders: Polizei und Sondereinsatzkommando alarmieren, warten bis die kommen und die Führung übernehmen. Das schien mir in dem Fall nicht sinnvoll. Einer meiner Vertreter hat das mal doch vorschriftsgemäss gemacht, als ich im Urlaub war, und das ging dann durchaus übel aus: Es war Silvester und die Gefangenen haben gesagt, sie möchten auf dem Flur feiern. Das hatte man denen auch für eine halbe Stunde gestattet. Die haben dann angefangen, abgerolltes Klopapier als Feuerwerk anzuzünden und sich anfangs geweigert, in ihre Zellen zu gehen. Aber anstatt, dass der dann gesagt hätte, das kriegen wir mit Bordmitteln hin, hat er die Polizei gerufen! Die Gefangenen waren längst friedlich in ihre Hafträume gegangen und hatten Ruhe gegeben, als das Sondereinsatzkommando mit Hubschraubern eingeflogen kam. Die waren schwer bewaffnet, schwarz bemalte Gesichter, Schutzkleidung. Als erstes haben sie in den Flur, in dem keiner mehr war, Blendgranaten geworfen und danach Knallkörper, damit die Gefangenen sowohl geblendet als auch im Gehör betäubt sind. Die meinten, jetzt sind wir da, jetzt räumen wir auch auf! Haben die Gefangenen zusammengeschlagen, obwohl die schon in ihre Zellen zurückgegangen waren.
Also da wurden eine Routine abgearbeitet und Regeln befolgt, obwohl sich die Situation bereits geändert hatte. Man hat sich sozusagen in den eigenen Regeln verfangen. Denn wenn die Hubschrauber einmal in der Luft sind, läuft der Einsatz wie vorgeschrieben und eingeübt routinemässig ab. Das ist die Logik. Schrecklich, hirnrissig, nicht?
Anna-Sophie: Kannst du noch ein Beispiel erzählen, wo du merktest: Jetzt ist so ein Punkt, wo ich das Risiko Ausnahme eingehe?
Joachim: Eigentlich geht man bei jedem Abweichen von einer Regel ein Risiko ein, weil es ja schief gehen kann. Ein Gefangener bekommt Ausgang, da darf er keinen Alkohol zu sich nehmen. Wenn er zurückkommt, muss er blasen, ganz normales Messgerät, wie es die Polizei auch verwendet. Was machen wir, wenn das eine sehr geringe Menge Alkohol anzeigt? Sollen wir das ganz grosse Besteck nehmen, also die üblichen Strafsanktionen verhängen, oder fragen wir erstmal, was war denn los? Dann sagt der vielleicht: mein Schwager hat mich so gedrängt, dass ich mit ihm anstosse, weil der hatte was zu feiern. Da habe ich eben einen Schluck genommen; sonst war nichts. Ich kann jetzt sagen, die Regel lautet, der kriegt keinen Ausgang mehr. Gar nie mehr oder jedenfalls in den nächsten Monaten nicht. Oder ich kann finden, das war eine lässliche Sünde, die ist nicht schön, aber erklärbar. Das wollen wir jetzt mal nicht so eng sehen.
Was ich in den Fokus nehme und was nicht, ist immer auch meine Entscheidung. Das ist beim Hausmeister in der Schule nicht anders als bei der Lehrerin im Klassenzimmer. Die kann sehen,dass Kevin gerade eine Papierkugel zu seiner Angebeteten geschnipst hat, oder eben nicht. Mir soll keine Lehrkraft erzählen, dass sie alles, was im Klassenzusammenhang nicht erlaubt ist, immer sanktioniert. Mir soll auch keiner erzählen, dass er das immer zu bemerken geruht. Einer kommt 30 Sekunden zu spät. Soll man das ins Klassenbuch eintragen? Das ist vielleicht gerade das beste Beispiel. Die Störung wird ja, wenn man den Regelverstoss hoch pusht, nur noch grösser. Es dauert dann noch länger, bis es zum wirklichen Unterricht kommt. Das machen auch alle Eltern so, weil man nicht jede Regel jederzeit durchsetzen kann! Da kann man übrigens auch gut die Gegenprobe machen. Was passiert und wie heisst es, wenn allen Regeln striktissimo befolgt werden? Das ist dann «Dienst nach Vorschrift», also eine Arbeitskampfmassnahme! Wenn man alle Vorschriften beachtet, die es überhaupt gibt, dann läuft der Betrieb nicht mehr. Dann ist Blockade. Das gilt für die Industrie genauso wie für jede andere Organisation. Es wird dann als Störung betrachtet, wenn jemand alle Vorschriften beachtet. Man muss einen Modus vivendi finden. Denk mal an Brandschutz. Wenn alle Brandschutzvorschriften immer beachtet würden, dann könnte man kaum arbeiten, weil da ist immer irgendwas, was nicht zulässig ist: Vielleicht müssen die Papierkörbe in den Büros tagtäglich geleert werden, weil sonst die Brandlast zu hoch wird.
Könnte ja einer versehentlich eine Kippe reinschmeissen. Oder sie müssen nicht bloss sofort geleert werden, sondern aller Abfall muss auch aus dem Gebäude geschafft werden. Brandschutz. Weshalb bei einer Brandschutz-Begehung es eigentlich nie vorkommt, dass nichts beanstandet wird. Gibt es nicht. In keiner Behörde, in keinem Betrieb. Die finden immer was. Oder Hygiene.
Denken wir an die Maskenpflicht in der Corona-Krise. Eine Maske hindert einen eben auch beim Reden, und die anderen daran, einen zu verstehen, weshalb sehr viele Menschen dafür einen Moment die Maske runtergezogen haben, ihren Satz gesagt haben, Maske wieder rauf. Das war regelwidrig, aber nicht besonders gefährlich.
Anna-Sophie: Ich habe diese eine Geschichte in Erinnerung mit dem Kampfhund. Wärst du bereit, die nochmal zu erzählen?
Joachim: Ein Gefangener kommt zu mir und beklagt sich darüber, dass das Liebste, was er auf der Welt hat, lieber als seine Eltern und seine Geschwister, ein Hund sei, sein Harro, den er als Welpe gekriegt habe und der nicht ins Gefängnis darf. Er habe schon bei den Besuchsbeamten nachgefragt, ob man da nicht eine Ausnahme machen könnte. Die hätten gesagt: wo denkst du hin, niemals, das gibt es nirgendwo! Er hat also die Bitte, ob man nicht doch einmal, nur für fünf Minuten, eine Ausnahme machen könne, so dass er das Tier in den Arm nehmen kann, weil er den Harro doch so liebe und das Tier das sicher auch brauche. Ich antworte, das geht nicht, es gibt dafür keinen Platz, alles betoniert, was machen wir, wenn der pinkelt oder sonst irgendwas. Das geht nicht, da haben die Beamten recht!
Aber er bittet so inständig, es würden doch auch sonst manchmal Ausnahmen gemacht! Ich denke, gut, ich frage nochmal die Besuchsbeamten, ob wir nicht doch einmalig eine Ausnahme machen können. Was die mir dann gesagt haben, war absolut unsäglich. Die haben gedroht mit dem Gesundheitsamt, dem Justizministerium, der Gewerkschaft, der Presse. Und überhaupt, wo denken Sie hin? Die haben eine durch das Gefängnis rasende Bestie an die Wand gemalt, die Tollwut und sonstige Erreger verbreitet und alle infiziert. Ich bin dann weggelaufen; habe gemerkt, das ist zwecklos, sinnlos.
Als der Junge eine Woche später wieder in meine Sprechstunde kam, habe ich gesagt, gut, ich mache eine Ausnahme: Ich selber beaufsichtige diesen Besuch mit Hund. Sie sagen Ihren Leuten, sie sollen ihn mitbringen beim nächsten Mal, nach Dienstschluss, 17 Uhr. An dem verabredeten Tag bin ich rausgegangen, habe die Leute getroffen, mit dem Hund an der Leine. Dann bin ich allerdings erschrocken, denn das war ein Kampfhund, ein American Pit Bull! Damit hatte ich nicht gerechnet. Damals war in allen Medien gerade das Thema Kampfhunde aktuell: Die sind lebensgefährlich! Aber ich hatte nun mal versprochen, ich mache die Ausnahme. Also übernahm ich den Hund an der Leine, gab dem Torbeamten ein Zeichen, dass er das Fahrtor auffährt.
Anna-Sophie: Du hast den Hund an der Leine übernommen? Hast du keine Angst gehabt?
Joachim: Ich war nun in der Situation, ich hatte es gesagt. Was ich versprochen habe, muss ich halten. Also muss ich da durch. Der war aber ganz brav an der Leine, und der Torbeamte hat also das erste Fahrtor aufgemacht. Ich bin mit dem Hund in die Schleuse hinein; der Torbeamte macht das Tor hinter mir wieder zu und das nächste Fahrtor auf. Da sieht der Harro den Gefangenen, ich öffne den Karabinerhaken und lasse ihn von der Leine. Wie ein Pfeil rast er los, seinem Herrchen in die Arme. Was für ein Wiedersehen! Der Gefangene nimmt ihn in die Arme, der Hund schleckt ihm das Gesicht, bei Harro fliesst ein bisschen Pipi, bei dem Gefangenen die Tränen. Der Anstaltsleiter, also ich, hatte einen Tennisball mitgebracht. Und dann haben wir gespielt mit dem Hund, Ball hin und her werfen. Der Harro hat sich völlig verausgabt. Und nach viel mehr als den vereinbarten fünf Minuten war dann irgendwann Schluss. Ergebnis: Gefangener zufrieden, Hund fix und foxy. Ich habe ihn wieder an die Leine genommen und den Angehörigen draussen übergeben.
Anna-Sophie: Und wie haben diese ganzen Leute reagiert, die vorher gesagt haben, geht nicht?
Joachim: Die standen währenddessen in der Torwache, hinter verspiegeltem Panzerglas, haben geguckt und vielleicht gehofft, dass der böse Hund jetzt mal den Anstaltsleiter ins Bein beisst und sie ihn dann retten können. Aber nichts von alledem. Die Ausnahme hat geklappt, Ende der Geschichte. Den positiven Ausgang haben sie geflissentlich nicht zur Kenntnis genommen. Als der Gefangene entlassen wurde, bei der Entlassungsverhandlung, hat er sich nochmal bei mir bedankt und gesagt, dass er die ganze letzte Haftzeit, einige Monate lang, davon gezehrt hat, dass er einmal diese Ausnahme bekommen hat.
Anna-Sophie: Und dann hast du es bei dem Rennradfahrer noch mal gemacht?
Joachim: Ja, wie bei vielen! Beim Rennradfahrer, das war so: der hatte mehrere Banken überfallen mit vorgehaltener Pistole, war aber, was ich dann erfahren habe, ein begnadeter Rennradfahrer. Mit seinem Verein war er gerade erst badischer Jugendmeister geworden. Es war sehr schwierig, die Ausnahme für ihn zu bewirken, dass er sein Rennrad ins Gefängnis zum trainieren mitbringen darf. Damit er seine Form halten kann, denn die verliert er sonst sehr schnell. Als hochtrainierter Sportler kann er sogar, wenn er nicht trainiert, Herzprobleme kriegen. Und der ist dann einige Wochen lang innerhalb des Gefängnisses auf unseren Strässchen herumgerast. Natürlich kam der Personalrat zu mir und hat gesagt, was soll das? Das geht überhaupt gar nicht. Dürfen dann alle mit dem Fahrrad fahren? Und wer haftet bei Unfällen?
Es ist in all diesen Fällen so, dass man entweder sich selber, wie in dem Fall mit dem Hund, nach vorne stellen muss und sagen: Ich will aber und nehm's auch auf mich, ihr müsst es nicht machen und es gibt auch keine Gefahr für irgendwen, ausser vielleicht für mich. Oder man muss überzeugende Gründe vorweisen können. Einen breiten Buckel brauchst Du ohnehin!
Ein anderer war im Gefängnis, weil er immer ohne Fahrerlaubnis Auto gefahren ist. Das waren seine einzigen Straftaten, die hat der allerdings x-mal begangen. Ihm fehlte die theoretische Prüfung, da war er mehrfach durchgefallen. Dann habe ich gesagt, wir müssen einen Fahrlehrer finden, der das macht, der auch einem Strafgefangenen den notwendigen Unterricht gibt und der ihm erlaubt, in seiner Fahrschule draussen an der Prüfung teilzunehmen. Das hat nach Überwindung zahlreicher bürokratischer Hürden schliesslich geklappt. Danach kann der ja keine solche Straftat mehr begehen, denn wenn er den Führerschein hat, kann er nicht mehr ohne fahren! Also ist das eine Resozialisierungsmassnahme, wie sie zwar nicht im Buche steht, wirkt sie aber wirkt.
Es gab es mal Zwillingsbuben aus Indien, kaum 14 Jahre alt, eigentlich noch Kinder. Die wollten zusammen in einem Bett schlafen, weil sie das ihr ganzes Leben so getan hatten. Unsere Bediensteten haben das natürlich nicht erlaubt, weil es das in Deutschland nicht gibt. Zwei Jugendstrafgefangene, im gleichen Bett, kommt nicht in Frage!
Anna Sophie: Ist das eigentlich das Normale, dass zwei in einer Zelle sind?
Joachim: Nein, das Normale ist Einzelzelle, wenn man es machen kann. Die beiden waren also in zwei verschiedene Hafträume gelegt worden. Die weinten die ganze Nacht, haben das nicht ausgehalten. Und es war auch nicht einsichtig. In dem Fall konnte man von der Regel abweichen, zumal man äusserst selten Zwillinge im Gefängnis hat und erst recht keine, die glaubhaft geltend machen, dass sie im ganzen Leben nie anders geschlafen haben. Das ist ja bei uns nicht normal. In Indien aber schon. Na gut, und so muss man dauernd Ausnahmen machen. Manchmal kommt auch ein Anstaltsgeistlicher auf einen zu mit einem Problemfall. Das kann die Ernährung betreffen oder die Unterbringung, dass man eine Ausnahme machen muss. Und zwar nicht bloss , wenn einer ansteckend ist, dann muss man es natürlich, sondern auch, wenn sich einer unsäglich fürchtet. Bei einem Sexualstraftäter, Kindermörder, war es mal so, dass alle Gefangenen sich verpflichtet fühlten, immer wenn sie an seinem Haftraum vorbeigingen, mit Füssen und Fäusten gegen seine Tür zu trommeln. Jeder hat das gemacht, weil allgemeiner Druck herrschte: Das musst du machen, der ist das schlimmste Schwein! Und du musst auch brüllen: wenn du rauskommst, bringen wir dich um! Da muss man dann einschreiten. Das kann so nicht gehen. Der muss geschützt werden vor diesem Terror.
Anna-Sophie: Und was hast du gemacht?
Joachim: Ich habe ihn wohin verlegt, wo die nicht rankommen konnten. Aber das ist natürlich eine Ausnahme, denn im Gefängnis sind solche abgelegenen Hafträume selten. Diese Extrawurst kann man nur einem braten, nicht allen. In der Pädagogik ist es ja eigentlich noch deutlicher. Erziehung en masse kann nicht funktionieren. Erziehung muss ja heissen, dass man jedem das zukommen lässt, was er für seine Entwicklung braucht. Der Starke braucht keine Stählung des Körpers, der Schwache schon. Der Ängstliche braucht Schutz, der Mutige nicht, vielleicht muss man den sogar ein bisschen einbremsen. Also in der Pädagogik kommt es darauf an, dass man das macht, was der Einzelne zu seiner gedeihlichen Entwicklung braucht.
Anna-Sophie: Also der Einzelfall sollte die Regel sein?
Joachim: Der Einzelfall zwingt uns oft zur Ausnahme, denn wir müssen individualisieren. Wir müssen uns auf die Bedürfnisse der Einzelnen einstellen. Die moderne Medizin sieht das auch so. Sie versucht, Medikamente zu entwickeln, die genau passen für den individuellen Patienten. Und selbst die Dosierung versucht sie zu individualisieren. Das muss für Erziehung ebenso gelten, denn wir wollen ja keine konformen Kadetten, die alle gleich aussehen, obwohl natürlich der Strafvollzug in der Gefahr ist, so eine Kadettenpädagogik zu praktizieren Nach dem Motto: «One size fits it all»...
Anna-Sophie: Würdest du sagen, der Grundsatz der Gleichheit ist im Gebiet der Pädagogik gar nicht angebracht?
Joachim: So würde ich das nicht sagen, ich würde es anders formulieren. Nach unserem Grundgesetz ist Gleiches gleich zu behandeln, aber Ungleiches seiner Ungleichheit gemäss verschieden. Viel Gleiches gibt es jedoch nicht auf dieser Welt. Zum Beispiel keine wirklich gleichen Menschen, denn jeder ist anders. Es gibt aber natürlich Gleiches an Menschen. Die haben vielleicht die selbe Schuhgrösse. Und gleich zu behandeln sind sie insofern, als sie einen Anspruch auf ein faires Gerichtsverfahren haben. Aber eben nicht, dass jedem die gleiche Dauer des Gerichtsverfahrens zusteht, denn die Fälle sind ja unterschiedlich komplex.
Das Gleichheitsgrundrecht sagt also gerade nicht, dass alle Menschen gleich sind und deshalb gleich behandelt werden sollen. Sondern dass sie, weil meistens nicht gleich, verschieden behandelt werden müssen: Es sind ja nicht alle Männer, es sind auch nicht alle Frauen, noch andere sind divers, manche alt, andere jung usw. Das alles und noch viel mehr muss berücksichtigt werden. Alles zwingt uns zur Unterscheidung. Das ist der Inhalt des Gleichheitsgrundsatzes. Der sagt nicht, alle Menschen sind gleich. Sonst könnte man keinem Menschen gerecht werden. Schon gar nicht denjenigen, die erzogen werden sollen. Ich kann dem jungen Menschen nur gerecht werden, wenn ich auf ihn als Individuum eingehe, auf seine Anlagen und Fähigkeiten, aber auch Probleme. Ich kann von einer Frau (was leider im Fernsehen vorgekommen ist), die im Fliegengewicht boxt, nicht verlangen, dass sie gegen einen Schwergewichtsmann antritt. Das ist unfair, unmöglich.
Also mit dem Gleichheitsgrundsatz muss man aufpassen. Gleiches muss gleich behandelt werden, aber Gleiches gibt es kaum einmal unter den Menschen. In der Schulklasse wohl überhaupt nicht. Da gibt es nur unterschiedliche Schüler und Schülerinnen, mit unterschiedlichen Begabungen, mit unterschiedlichem Verhalten. Früher habe ich das manchmal nicht begriffen, aber heute verstehe ich das sehr gut, als meine Sozialarbeiter von der Leistung eines Gefangenen sagten, «für seine Verhältnisse arbeitet er schon gut», obwohl seine Arbeitsleistung nicht wirklich gut war. Also ich bin für die Regel, wo sie passt, und für die Ausnahme, wo sie erforderlich ist. Und das ist häufig!
Anna-Sophie: Hattest du den Eindruck, dass du, um diese Ausnahmen möglich zu machen, sehr viel in die Waagschale werfen musstest?
Joachim: Ich glaube, jeder, der Ausnahmen macht, muss das. Es ist nicht der einfache Weg. Der führt dahin, sich hinter den Regeln zu verschanzen und sich nicht gross zu engagieren. Wenn du Ausnahmen machst, musst du kämpfen. Weil immer viele dagegen sind. Präzedenzfall, Berufungsfall! Die wollen, dass alle über den gleichen Kamm geschert werden. Dann würden aber auch, wenn das richtig wäre, alle mit der gleichen Frisur rumlaufen. Wollen wir das?
Anna-Sophie: Das würde ja auch den Leuten, die dann schreien «Präzedenzfall», abverlangen, dass sie sich im Detail in ein individuelles Schicksal hineinversetzen mit all den Besonderheiten. Das ist ja anstrengend.
Joachim: Sehr anstrengend! Es ist übrigens interessant, dass andere Rechtssysteme, insbesondere das angloamerikanische, kaum mit gesetzlichen Regeln arbeiten, sondern überwiegend mit Präzedenzfällen und Vergleichsfällen: Da hatten wir vor 150 Jahren einen Fall, der war genau so. Und analog zu dem entscheiden wir das heute! Wir dagegen haben lieber generalisierte Regeln.
Anna-Sophie: Ist das gut oder ist das schlecht?
Joachim: Beides geht, wenn man die Ausnahme von der Regel entweder gleich mitbedenkt oder nachträglich zulässt. Friedrich der Grosse von Preussen hatte etwas gegen Juristen. Er hat sich daran gestört, dass die Gerichte immer wieder nicht genau nach den Buchstaben der Gesetze entschieden haben. Die haben immer irgendwas gefunden, was in dem Fall dann doch anders ist. Das hat ihm furchtbar gestunken. Daraufhin hat er seine Regierung beauftragt, das grösste Gesetzgebungswerk der Welt zu schaffen. Das allgemeine preussische Landrecht. Das hatte mehr als 19.000 Paragrafen! Weil er wünschte, dass es keine nicht normierten, nicht beschriebenen Ausnahmefälle gibt, dass alles geregelt ist. Das ist natürlich zu Schanden geworden, weil man nicht alles regeln kann. Das Leben ist vielfältig. Sonst würde nicht der Bundestag jeden Tag neue Gesetze erlassen. Jeden Tag! Und dann würden nicht die Menschen dauernd über Bürokratie jammern. Sie wünschen sie aber selber, weil sie, wie der Alte Fritz, oft Anhänger dessen sind, dass niemand von einer Regel soll abweichen dürfen. Alles soll immer durchgeregelt sein. Mit Vorschriften, mit Normen, Verkehrszeichen usw.
Anna-Sophie: Kann man sagen, dass der Berg der Regeln täglich anwächst?
Joachim: Ja, ja, das wünschen die Bürger!
Anna-Sophie: Die Bürger?
Joachim: Ja, die sind die Verteidiger der Regeln! Sie wünschen die zwar nicht für sich selber, weil das ihre Freiheit beschränkt. Das ist klar. Der Handwerker will keine Regeln, die sein Handwerk einengen. Er will sie aber für andere! Er will sie für den Strassenverkehr, er will sie für die Steuerbehörden, die Ausländerbehörden, sogar für die Halter freilaufender Katzen! Nur nicht für sich.
Anna-Sophie: Hast du den Eindruck, dass dadurch dass wir uns so einkorsettieren mit Vorschriften das Bedürfnis, sich davon zu befreien, mal eine richtig fette Ausnahme zu machen, zunimmt, weil es einfach zu viel geworden ist mit diesen ganzen kleinteiligen Regeln?
Joachim: Ja, ja, die kleinteiligen Regeln sind zu viel. Die Crux ist aber, es sind die Bürger, die sich mit den Ausnahmen nicht beschäftigen wollen, mit den Schwierigkeiten, mit der Verteidigung der Ausnahme von der Regel, mit der Begründung. Weil das anstrengend ist und Sachkenntnis erfordert. Das wollen sie nicht; deshalb wollen sie einfache Regeln, ohne Ausnahmen. Hier in Adelsheim ist jetzt eingeführt worden, dass alle Katzenhalter verantwortlich sind, dass ihre Katzen, die draussen herumlaufen, gechippt, registriert und kastriert sind. Die sollen sich nicht vermehren können, die sollen am besten gar nicht draussen sein. Andererseits hat mir der Bürgermeister zugegeben, dass sie keinerlei Kontrollmöglichkeiten haben. Das heisst, die Gemeinde hat Vorschriften erlassen, die tief in die Details gehen. Eineinhalb Druckseiten im Amtsblatt! Es wird gemacht, damit das geregelt ist, damit man sieht, es wird etwas getan wird.
Unsere Nachbargemeinden haben diese Satzung auch eingeführt. Alle haben von den anderen abgeschrieben. Keiner hat sich diese Verordnung genau angeschaut. Ein einziger Stadtrat war dagegen, indem er gesagt hat, das ist Quatsch und das brauchen wir gar nicht. Alle anderen waren dafür!
Anna-Sophie: Brecht hat ein Stück geschrieben mit dem Titel: Die Ausnahme und die Regel. Bist du jetzt per Zufall drauf gestossen oder kanntest du das schon?
Joachim: Ich kannte es, aber du hast mich durch deine Anfrage drauf gebracht, es nochmal zu lesen. Das ist interessant, es ist unser Thema. Nur hat Brecht die Sache andersherum gedreht.Denn wir reden die ganze Zeit von der Ausnahme zugunsten von Menschen, denen so Gerechtigkeit widerfährt, pro homine … Brechts Stück handelt vom Gegenteil.
Anna-Sophie: … also die Ausnahme gedacht als ein Moment von Freiheit und Positives bewirkend und in diesem Stück von Brecht ist es das Gegenteil?
Joachim: Ja, und deshalb sage ich gerne, in der Schule sollte jede Lehrkraft darauf achten, dass sie bei der Notengebung und bei der Behandlung den Kindern individuell gerecht wird - und nicht das tut, was Brechts Richter gemacht hat. Denn der hat die Ausnahme zugunsten der Herrschenden gemacht; den Mörder laufen lassen, die Klage der Witwe des Opfers abgewiesen.
Anna-Sophie: Und sag mal, können wir noch kurz das Thema Natur streifen? Also diese Frage, gibt es eventuell auch in der Natur so etwas wie Ausnahmen von der Regel?
Joachim: In der Natur gibt es Gesetze. Sie können keine Ausnahme haben, wie menschengemachte Regeln, sonst wären es keine Naturgesetze. Allerdings lehrt uns die moderne Wissenschaft, dass es wohl doch vorkommt, dass Naturgesetze oder was wir dafür halten, wie das Gravitationsgesetz, vielleicht doch Ausnahmen haben, wenn man weit genug denkt und tief genug in den Weltraum eindringt. So zweifeln manche, ob es tatsächlich so ist, dass sich Parallelen im Unendlichen doch schneiden, obwohl es definitionsgemäss gar nicht sein kann. Inzwischen fragt man sich sogar, ob es ein Weltall gibt oder mehrere davon. Was ist dann das Unendliche? Und wie muss man sich das vorstellen, das, was man sich nicht vorstellen kann ...
Anna-Sophie: Joachim, vielen Dank für dieses Gespräch!
*Joachim Hans Walter
Dr. iur. utr., geb. 1944, studierte Rechtswissenschaften, Psychologie und Kriminologie 1965-1970 an der Universität Heidelberg. Ab 1973 war er stellvertretender Leiter der Justizvollzugsanstalten Heilbronn, Karlsruhe und Stuttgart-Stammheim, von 1979-1989 Leiter der Justizvollzugsanstalt für junge Gefangene in Pforzheim, 1989- 2009 Leiter der Jugendstrafanstalt Adelsheim. Betreibt heute eine Anwaltskanzlei in Osterburken mit den Schwerpunkten Strafrecht und Beamtenrecht.