Lehrermangel

Wenn Zwangsrekrutierungen im Bildungsbereich ausarten. Kolumne von Anton Brüschweiler.

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Letzten Dienstag ging ich morgens in Bern über die Lorrainebrücke. Plötzlich hielt ein blauer VW-Bus mit quietschenden Reifen neben mir. Die hintere Seitentüre wurde geöffnet und ehe ich mich versah, wurde ich von einem Polizisten ins Fahrzeug gezerrt. Zuerst dachte ich an eine Verwechslung, doch dann wurde ich eines Bes­seren belehrt: «Lehrerinnenmangel», schnauzte mich der Polizist unfreundlich an. Da sich zu wenige für diesen Job melden, schnappt sich der Staat irgendwelche Menschen von der Strasse. Ich war total geschockt! 

«Beeil dich,» rief mein Kidnapper dem Fahrer zu, «in einer Viertelstunde beginnt die Schule.» «Hallo», rief ich schockiert. «Soll das heissen, dass ich in 15 Minuten vor eine wildfremde Schulklasse gestellt werde?» – «Genauso ist es! Befehl von oben», erwiderte der Beamte autoritär. Kurze Zeit später hielten wir vor dem Lorraine-Schulhaus. Die Polizisten führten mich wie einen Schwerverbrecher ins Lehrerzimmer.

«Wir haben euch wieder einen», rief mein Kidnapper. Danach verschwanden sie. Sofort schritt der vermeintliche Schulleiter auf mich zu und sagte: «Super, dass du da bist! Wir brauchen dringend jemand für die 8b. Hier ist das Französisch-Lehrmittel. Seite 53 bis 56 durcharbeiten. Unregelmässige Verben im passé composé.» «Aber, aber», stotterte ich, «ich kann doch gar nicht Französisch.» – «Ach, tu doch nicht so saublöd, jeder Schweizer kann Französisch. So, nun musst du aber sofort zur Klasse! Den Gang entlang, dritte Türe links, 8b.»

Ich konnte nicht glauben, wie mir geschah. Voller Panik trat ich ins Klassen­zimmer. Entgegen meiner Erwartungen begrüssten mich die Jugendlichen freundlich, eigentlich fast jubelnd. Eine Schülerin kreischte: «Endlich wieder ein Lehrer, wie toll ist das denn!» Ich öffnete das Lehrbuch und begann irgendetwas auf Französisch zu stottern über passé composé oder so. Der Schweiss lief mir in Bächen von der Stirn. Erstaunlicherweise waren die Schülerinnen und Schüler sehr hilfs­bereit. Sie erklärten mir alles, was ich eigentlich ihnen erklären sollte.

Doch plötzlich gab es im Nachbarszimmer einen unglaublichen Knall. Wir zuckten alle zusammen und rannten hinüber. Im Chemie-Zimmer stand ein ebenfalls gekidnappter Lehrer mit angesengten Haaren. Sein Chemieversuch war fehlgeschlagen. Als altes Chemie-Ass sah ich sofort wieso: Er hatte Schwefelsäure mit Salpetersäure verwechselt. Durch den Knall war ich nun aber erwacht. Es dauerte eine Weile, bis ich realisierte, dass ich das alles nur geträumt hatte. Obwohl es nur ein Albtraum war, befürchte ich, dass es durch den krassen Mangel an Lehrkräften tatsächlich eines Tages zu Zwangsrekrutierungen kommen könnte. Seither meide ich die Lorrainebrücke morgens.

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