Mehr Freiheit, weniger Zwang bei der Arbeit

Die Gewerkschaften kümmern sich um die Lohnarbeit. In der Gesamtgesellschaft zählt  jedoch das Recht auf ein existenzsicherndes Einkommen – vor dem abstrakten Recht auf Arbeit. Und bei den Dienstleistungen überwiegt die Gratisarbeit. Diese ist mehrheitlich weiblich bestimmt. Gedanken zu einer UNIA-Studie.

Sechzig Prozent der Beschäftigten in der Schweiz arbeiten im privaten Dienstleistungssektor. Dieses Segment des Arbeitsmarktes wächst stetig. Im tertiären Sektor – wie man ihn auch nennt – waren 2009 insgesamt 1,7 Mio Frauen und knapp 1.5 Mio Männer beschäftigt.
Zu den Grundbedürfnissen aller Menschen gehört neben der Gesundheit, dem Dach über dem Kopf und der Nahrung auch ein ökonomisches Einkommen, um die Lebens-Notwendigkeiten zu bezahlen. Dieses Einkommen wurde bisher mehrheitlich durch die Lohnarbeit erbracht. Immer mehr stossen aber in der Gesamtgesellschaft Menschen mit anderen Einkommen dazu, Rentenberechtigte, Sozialhilfeabhängige. Und dann gibt es auch Menschen fast ohne Einkommen. Das sind die Armutsbetroffenen. Für die unablässig steigende Zahl von Menschen ohne Lohnarbeit bedeutet das von den Gewerkschaften immer noch lautstark proklamierte Recht auf Arbeit keine Existenzsicherung. Diese Losung verkommt zur leeren Phrase. An ihre Stelle ist das Recht auf Einkommen, das Recht auf Existenzsicherung getreten.

Gewerkschaften hinken hinterher
Die Gewerkschaft UNIA befindet sich also in doppeltem Rückstand zur heutigen gesellschaftlichen Entwicklung, auch wenn sie endlich etwas nachholt, was schon längst hätte geschehen sollen. Mit einem Büchlein zur Dienstleistungs-Lohnarbeit* hilft die Gewerkschaft UNIA mit, eine empfindliche Lücke zu schliessen. Es besteht immer noch ein erheblicher Informationsmangel über das, was sich an der Basis unserer Arbeitsgesellschaft verschiebt.
Zu lange wurden die Privatangestellten des Dienstleistungssektors von den Schweizer Gewerkschaften ignoriert. Die UNIA versucht nun, diese gewerkschaftliche Wüste zu begrünen. Die Autorin und die beiden Autoren geben im Buch «Verkannte Arbeit» einen Überblick über eine Vielzahl von Aktionen, in denen Dienstleistende gemeinsam den Kampf aufgenommen haben, teilt die Gewerkschaft UNIA mit.

Ausgebeutete Weiblichkeit
 In unserer arbeitsteiligen Gesellschaft sind die Frauen doppelt benachteiligt. Immer noch hinken die Frauenlöhne hinter den Männerlöhnen her. Oder die Frauen werden im Arbeitsprozess in weniger verdienende Posten, schliesslich zur unbezahlten Arbeit zu Hause abgedrängt. Die UNIA-Studie hält zur Gender-Situation im tertiären Sektor der Lohnarbeit fest: „In der Hauswirtschaft oder bei der Körper­pflege beträgt der Frauenanteil über 90%, bei Sicherheit und Informatik kommt er nicht über 10% hinaus. Dagegen wird unbezahlte Arbeit zu 65% von Frauen verrichtet.“  (S. 27). Das UNIA-Büchlein berichtet dann, dass nach Berechnungen der Ökonomin Mascha Madörin gesamthaft mehr Arbeitsstunden in jenem Teil der Wirtschaft verrichtet werden, der keinen Lohn bezahlt als in jenem mit Lohnarbeit. Die UNIA hält auf S. 25 lapi­dar fest: „Somit ist die unbezahlte Arbeit für das Funktionieren der Wirtschaft sehr wichtig, hat aber bis heute nicht die gebührende gesellschaftliche Anerkennung er­halten. Sie wird von der Gesellschaft gratis angeeignet. Wir werden an dieser Stelle auf diese Problematik nicht weiter eingehen und beschränken uns auf die be­zahlte Erwerbstätigkeit der Frauen.“ Warum denn wird auf diese Problematik nicht einge­gangen? Geht es hier um Verdrängung?

Neuen Ideen abhold
Hier offenbart die UNIA den doppelten Rückstand einer Gewerkschaft zur  gesellschaftlichen Entwicklung. Die Gewerkschaftsführungen sind oft einer kreativen, weiter führenden Ideenvielfalt abhold. Ängstlich klammern sie sich an die allein seligmachende Lohnarbeit, die gesamthaft stets abnimmt. Der Diskussion über das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) wird ausgewichen, soweit es nur geht. Die Gründe dazu mögen mannigfaltig sein, aber die Angst vor dem Neuen und noch-nicht-Erprobten herrscht vor. Immer noch wird ein altgedientes Gesellschaftsbild vor­getragen, das zusehends unbrauchbar wirkt. Es ist die fatale Idee einer aus der Hochkonjunktur stammenden Vollbeschäftigung, an welche sich dann Klassentheorien ketten lassen, indem der Exklusivität der Lohnarbeit als Einkommensursprung Priorität ein­geräumt wird. Es wäre zu erwähnen, dass seit den 90er-Jahren des vorigen Jahrhunderts gesamthaft ein struktureller Beschäftigungseinbruch stattgefunden hat, auch wenn die Niedriglohnarbeiten im Dienstleistungssektor zunehmen, so lange die traditionelle Arbeitsteilung durch das Bedient-werden-wollen noch wächst . Noch ist in der breiten Schicht der besser Gestellten Geld vorhanden, um sich alle benötigten Dienstleistungen zu bezahlen. Aber die nächste Welle der Selbstbedienung ist für unsere Arbeitswelt voraussehbar und wird sie aus zwingenden Gründen des gesellschaftlichen Wandels erfassen. Im Büchlein stellt die UNIA auf S. 35 Betrachtungen über die soziale Lage der Dienstlei­tungsangestellten an. Es wird theoretisch über Klasse und Mittelstand sinniert. Zum hehren Ziel des Monopols von Lohnarbeit  im Bereich des existenzsichernden Einkommens behauptet die UNIA: „Es ist nach wie vor der Lohn, wel­cher die Lebens­chancen und die Lebensqualität der Mehrheit der Men­schen mass­geblich bestimmt. Dies gilt heute umso mehr, weil die Lebenswelt zu­nehmend mo­netarisiert wird und kaum mehr andere Einkommens- und Subsistenz­quellen zur Verfügung stehen.“

Unabhängigkeit kontra Erpressbarkeit                                                                              
Das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) trägt die Idee der Freiheit und der Unabhängigkeit eines jeden einzelnen Menschen in die Arbeitswelt voller Zwänge, Hierarchien und Ausgeliefertsein hinein. Ökonomische Unabhängigkeiten von Individuen, aber auch von ganzen Gruppen, nicht zuletzt auch von Gewerkschaften wer­den durch das BGE gefördert. Denn wie steht es mit der Verweigerung? Arbeitsverweigerung aus kollektiven oder individuellen Gründen? Dem Streik? Der ökonomisch möglichen und gesellschaftspolitisch erwünschten Verweigerung von Lohnarbeit? Oder von erzwungener Gratisarbeit in einem häuslichen Abhängigkeitssystem vom meist männlichen Lohnerbringern?
Nach der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) kann zum Beispiel eine Gewerkschaft viel länger und wirkungsvoller den Arbeitskampf durch­ziehen als dies heute der Fall ist. Die Reserven der Streikkasse werden nicht so rasch aufgebraucht, denn die minimale Existenzsicherung der Streikenden ist durch das BGE gewährleistet. Voraussetzung dafür ist ein guter Organisationsgrad der Bediensteten im tertiären Sektor. Daher ist die gewerkschaftliche Aufbauarbeit der UNIA so wichtig.
Auch im Bereich der Gratisarbeit können Menschen dem Zwang und der Abhängigkeit von einer Beziehung individuell eher ausweichen, wenn ihnen ein Mindesteinkommen durch das BGE garantiert wird. Im Falle von Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, wird ein Aus­scheiden aus der erpresserischen ökonomischen Abhängigkeit vom allfälligen Allein-Ernährer einfacher. Und von Fall zu Fall sicher auch leichter voll­ziehbar. Eine individuelle Streikaktion und der Auszug aus der gemeinsamen Wohnung können mitunter lebensrettend sein.

 
*«Verkannte Arbeit. Dienstleistungsangestellte in der Schweiz.» Andreas Rie­ger, Pascal Pfister, Vania Alleva. 180 Seiten. 2012. Rotpunktverlag. ISBN 978-3-85869-508-6, Fr. 28.-


Gegenwärtig läuft die Unterschriftensammlung zur eidgenössischen Volksinitiative für ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE).
Siehe auch: http://www.bedingungslos.ch/
30. Oktober 2012
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