Mein «Aufstieg» zum Reporter beim Fernsehen

August 1974: Ein Interview vor dem Bienenhaus – Das Medium Bild als Mittel zum Zweck – Staatsbeamte auf Reportage – Ein ausgewogener Beitrag – Als ich mich in die Welt verliebte. Die Chronik einer Leidenschaft. Folge 81

Der Autor in Aktion fürs Schweizer Fernsehen - vor 50 Jahren (Bild SRF/Screenshot)
Der Autor in Aktion fürs Schweizer Fernsehen - vor 50 Jahren (Bild SRF/Screenshot)

Gespannt und schon reichlich selbstbewusst stieg ich beim Fernsehen ein, hochmotiviert, das Handwerk des Films zu erlernen und meine ersten Reportagen zu produzieren. Doch schon am ersten Arbeitstag wurde mir klar, dass von eigenen Reportagen noch keine Rede sein konnte. Während ich beim Schreiben mein eigener Regisseur  war, musste ich bei der «antenne» zunächst einmal «mitgehen». 

Damals gab es noch keine Videojournalisten, die ihre Berichte allein produzierten. Ein Fernsehteam bestand aus Reporter, Kameramann und Tonoperateur. In dieser hierarchischen Reihenfolge. Der Reporter entschied und die Techniker handelten, wobei der Mann an der Kamera einen höheren Status besass als der Tonmann. Ich war als Vierter dabei, und der erste Bericht, bei dem ich mitgehen durfte, führte uns in den Aargau. 

Der schon etwas ältere, erfahrenere Journalist hatte den Auftrag, über die Krise in der Bienenzucht zu berichten, die nach mehreren honigarmen Jahren zu einem akuten Problem wurde. Zahlreiche Bienenzüchter hatten ihre Zucht bereits aufgegeben, und auch die Obstproduktion wurde durch den Rückgang der Bienenvölker in Mitleidenschaft gezogen. Also rückten wir zu einer Bienenzucht in der Provinz aus, um vor authentischem Hintergrund mit einem Vertreter des Bienenzüchterverbands zu sprechen. 

Das Interview, so beschloss der Reporter, sollte direkt vor dem Bienenhaus durchgeführt werden. Die Fragen zu stellen, überliess er mir. Das hätte mich freuen können – wären nicht die Bienen gewesen. Während der Mann vom Bienenzüchterverband seinen «Stumpen» rauchte, um sich die fleissigen Tierchen vom Leibe zu halten, war ich den um mich herum sausenden, summenden Bienen ungeschützt ausgeliefert. 

Die Bienen allein hätten mich noch nicht in die Flucht getrieben, doch dies war mein erstes Interview, und ich musste mich konzentrieren. Im Archiv des Schweizer Fernsehens habe ich den Beitrag gefunden, und ich schaue mir zu, wie ich dem Bienenzüchter 1974 die Frage stelle, warum es weniger Bienen und damit weniger Honig gebe. Während er meine Frage immer noch stumpenrauchend beantwortet, ist von mir selbst nur die Hand mit dem Mikrofon zu erkennen. Wäre ich ganz im Bild, würde man mir bestimmt ansehen, dass ich mir bloss noch wünschte, der Vertreter des Bienenzüchterverbandes hätte endlich fertig gesprochen. Aber damals war es noch keineswegs üblich, Interviewte zu unterbrechen. Man liess sie reden – und der Mann hörte nicht auf zu reden und zu erklären, während sein Bienenvolk meinen Kopf umschwärmte. 

Ich hielt dem Gesummse tapfer stand. Der Journalist, mit dem ich ausgerückt war, verfolgte die Szene in sicherem Abstand. Er muss sich königlich amüsiert haben. Und anerkennend fand er vermutlich, dass ich die Feuertaufe bestanden hätte.

In den folgenden Wochen durfte ich weitere Reportagen assistierend begleiten. Der Reporter entwarf das Konzept mit mir, ich durfte den Text verfassen oder die Interviews machen; ich hörte zu, wenn der Reporter mit dem Kameramann die Einstellungen besprach, und natürlich war ich dabei, wenn wir ins Studio zurückgekehrt waren und der Bericht, unter Zeitdruck meistens, geschnitten wurde. 

Offenbar lernte ich schnell, denn bereits nach vier Wochen durfte ich meine erste eigene Reportage gestalten. Die Möbelfabrik Röthlin im schwyzerischen Lachen war in eine Krise geraten und sah sich gezwungen, einem Teil der Belegschaft zu kündigen. 

Das sozialkritische Thema war so richtig nach meinem Geschmack, und als Peter Schellenberg, der «antenne»-Chef, das Konzept des Beitrags mit mir besprach, hörte ich ihm geduldig zu. Doch eigentlich wusste ich selbst, was ich heimbringen musste: Interviews mit den Werktätigen, Fragen an den Fabrikherrn und ein Statement des Gemeindepräsidenten von Lachen. Im Journalismus musste mich niemand belehren. Darin kannte ich mich aus.

Warum fühlte ich mich so sicher, obwohl doch das Medium Fernsehen und Film immer noch vollkommen neu für mich war? Weil ich schon in den ersten Wochen begriff, dass im Fernsehjournalismus nicht vor allem die Bilder zählten – sondern der Text. 

Im Grunde waren die Beiträge, die wir gestalteten, bebilderte Zeitungsartikel. Das Medium Film wurde, etwas böse gesagt, als Mittel zum Zweck benützt. Die Bilder dienten zur Illustrierung des Begleitkommentars. Was ich in diesem Fall brauchte, waren Bilder von der Fabrik und der Möbelfabrikation, Bilder von Arbeitern beim Verlassen des Firmengebäudes, Bilder von der Gemeinde Lachen. Ein paar Totalen, einige Schwenks, Nahaufnahmen und Details.

Deshalb standen die Kameraleute, obwohl es um ein Bildmedium ging, hierarchisch unter den Journalisten. Ihr filmisches Können musste sich auf das Liefern «guter Bilder» beschränken. «Gute Bilder» blieben bescheiden im Hintergrund. Sie durften den Kommentar nicht stören.

Diese Rollenverteilung von Bild und Text wurde mir natürlich erst mit der Zeit richtig bewusst. Aber ich merkte sehr rasch, dass die Zweierteams, die mit mir ausrückten, schon von vornherein wussten, was von ihnen erwartet wurde. Darüber musste ich anfänglich froh sein, denn ich sah mich noch nicht in der Lage, dem Kameramann Direktiven zu geben, was er zu filmen hatte. Dass wir die richtigen Bilder nach Hause brachten, hatte ich ihm zu verdanken. Am Schneidetisch war es zu spät, wenn die richtigen Bilder fehlten. Dann musste man etwas «basteln» – was die Zuschauer hoffentlich nicht bemerkten.

Mein Bericht über die Entlassungen bei der Möbelfabrik gelang mir ganz gut – allerdings nur, weil der Chefredaktor persönlich an den Schneidetisch kam. Doch von da an durfte ich selber auf Reportage – was ich mir trotz aller Unerfahrenheit vom ersten Tag an gewünscht hatte. Denn ich lernte nirgends leichter als in der Praxis und auf eigenen Füssen. Anfänglich konnte ich auch damit leben, dass es eher leichtgewichtige Themen waren, über die ich berichten durfte. Ich porträtierte ein Ehepaar, das im Kanton Baselland eine Station für kranke Igel eröffnet hatte. Ich berichtete über die Restaurierung eines Schlösschens im Bernbiet, ich reiste nach Frauenfeld zur Einweihung des neuen Kantonsspitals, und ich stellte einen in Uster gegründeten Dritte-Welt-Laden vor. 

Diese Themen interessierten mich mehr oder weniger überhaupt nicht. Aber ich war mit Abstand der Jüngste im Team der «antenne» und musste nehmen, was übrig blieb. Damit konnte ich zunächst leben, denn noch überwog die Genugtuung, beim Schweizer Fernsehen tätig zu sein. Mit einem der VW-Busse auf Reportage zu gehen, auf denen das unübersehbare Logo prangte, gefiel mir nicht schlecht. Das Fernsehen, ähnlich wie die Swissair, hatte damals den Nimbus eines Nationalheiligtums. Für Konkurrenz sorgten allein die Sender aus Deutschland, die ARD und das ZDF, doch hierzulande gab es nur DAS Fernsehen. Die ganze Nation konsumierte es, und die Jahr für Jahr fällige, nicht zu knappe Empfangsgebühr stellte niemand in Frage.

Wo immer wir auftauchten, galten wir als Gesandte einer modernen Schweiz und erfreuten uns besonderer Aufmerksamkeit. Entsprechend selbstbewusst traten wir auf. Wenn der Kameramann Regieanweisungen gab, leisteten die Leute vor Ort bereitwillig Folge. Schliesslich kam das Fernsehen nicht jeden Tag zu ihnen.

Von der hierarchischen Abstufung innerhalb der Equipe merkten die Leute nichts. Dieses Ungleichgewicht schürte Konflikte. Denn letztlich traf nicht der Kameramann die Entscheidungen, sondern ich, der Reporter. Ich konzipierte den Beitrag, ich bestimmte den Drehort und die Interviewpartner, ich erklärte dem Verantwortlichen für das Bild, welche Aufnahmen wir noch benötigten. Auch wenn er es besser wusste, hatte das letzte Wort ich. 

Manche der Journalisten, das erlebte ich schon in den ersten Wochen, trafen nicht immer den richtigen Ton, wenn sie den Kameraleuten sagten, was sie zu tun und zu filmen hatten. Das kam gar nicht gut an. Auch ich vernahm die kleine Geschichte, die man sich unter ihnen herumbot. Eine übereifrige Journalistin, die inzwischen auch mir bekannt war, hatte die Eigenschaft, am beruflichen Feingefühl der Bildgestalter zu zweifeln. Häufig begehrte sie deshalb, selber einen Blick durch die Linse zu werfen, bevor die Einstellung abgedreht wurde. 

Irgendwann reichte es einem der Kameraprofis, und bevor sich die Journalistin, wie so oft, selber ein Bild machen wollte, schloss er die Linse, ohne dass sie es merkte. Als sie dann in die Öffnung blickte und offensichtlich nur Schwarz sah, dachte sie, sich getäuscht zu haben. Um nicht dumm dazustehen, erklärte sie deshalb, die Einstellung sei genau richtig.

Damit hatte sich die Reporterin zum Gespött gemacht, ohne dass sie selber davon erfuhr. Mir aber sollte das nie passieren, das schwor ich mir, und meine Ehrlichkeit half mir dabei. Das Problem, zuzugeben, dass es mir an Erfahrung fehlte, hatte ich nie. 

*

Trotzdem bekam nun auch ich das Gefälle zwischen den bestandenen Fernsehequipen und mir zu spüren. Mein noch gänzlich unverdorbener Eifer, den ich für jedes Thema entwickelte, auch wenn es mich im Grunde nicht sonderlich packte, breitete ihnen Vergnügen, und manchmal liessen sie sich von mir sogar anstecken, drehten aus anderer Perspektive eine Einstellung nochmals oder steuerten einen weiteren Drehort an, weil ich es so sehr wollte. Sie zeigten auch viel Geduld mit dem blutjungen Anfänger, wenn mir ein Interview selbst im dritten Anlauf nicht recht gelang oder wenn sie für mich eine Einstellung drehten, die sich als überflüssig erwies.

Doch pünktlich um 12 Uhr legten sie Tonbandgerät und Kamera nieder. Mittagszeit. Auch wenn noch ein dichtes Programm vor uns lag oder auch wenn ich mich mit den Drehterminen zeitlich verrechnet hatte – um 12 Uhr war Schluss. Denn die Mittagspause der Staatsangestellten beim Fernsehen wollte genossen und zelebriert sein. 

Erstaunt lernte ich, wieviel Spesengeld für das Mittagsmahl zur Verfügung stand. Immerhin, ausbezahlt wurde es nicht. Die staatlich verpflichteten, nahezu unkündbaren Ton- und Kameraleute mussten die Quittung nach Hause bringen, um das Geld zu erhalten. Aber die Spesen waren so reichlich bemessen, dass sie für das teuerste Menu in einem besseren Restaurant reichten, inklusive ein Gläschen in Ehren. Oder auch zwei.

Natürlich durfte es nicht irgendein Gasthaus sein. Im Laufe der Jahre und Reportagen landauf landab kannten die Fernsehequipen in jeder Region das empfehlenswerteste Restaurant. Nicht immer befand es sich gleich um die Ecke, sodass schon der Vormittag abgekürzt werden musste – damit die Fahrt zum ausgewählten Lokal nicht in die Mittagszeit fiel. 

Wenn wir die Gaststätte dann betraten, rieb sich der Wirt schon die Hände. Die Leute vom Fernsehen waren willkommene Gäste. Sie erschienen, wann immer sich ihnen die Gelegenheit bot, sie fragten nach dem à la carte-Menu, sie liessen sich Zeit für das Essen, und wer sich Zeit lässt, bestellt vielleicht noch etwas.

Während der Mittagspause änderte sich die Rangordnung. Kamera und Ton gaben den Takt vor, der Reporter musste sich fügen. Für mich war das hart. Gegen gutes Essen hatte ich sicher nichts einzuwenden, vor allem, wenn es der Staat bezahlte. Und da das kulinarische Niveau auf der Waldegg bei Algerier-Wein und Spaghetti Bolognese verharrte, war ein Essen im Restaurant eine willkommene Abwechslung. Auch das Angebot in der Fernsehkantine schmeckte mir immer noch besser als die Einheitskost in der WG. 

Aber geschlagene eineinhalb Stunden in einem feinen Lokal abzusitzen und über Dinge zu reden, die mich nur mässig interessierten, empfand ich als Zeitvergeudung. Die berufserfahrenen, oft schon verheirateten Ton- und Kameraleute befanden sich an einem anderen Punkt des Lebens als ich, sodass unser Smalltalk bei Tisch immer wieder in Fernsehinternas, Familienglück und Fachsimpeleien abrutschte. Das langweilte mich. 

Interessant wurde es für mich oft nur dann, wenn ich meine neuen Arbeitskollegen zu politischen Diskussionen bewegen konnte. Mit meiner Einstellung eckte ich selten an, denn der weltanschauliche Grundton im Fernsehen war schon damals tendenziell eher links. Aber während ich es mit der Gesellschaftsveränderung eilig hatte, nahmen es der Ton- und der Kameramann eher gemütlich. Das Mittagsmahl zu geniessen und pünktlich Feierabend zu haben, war ihnen wichtiger als die Welt zu verbessern.

Dasselbe empfand ich auch von einigen meiner Reporterkollegen in der «antenne». Manche waren schon lange dabei und hatten es sich in ihrem abgesicherten Job recht bequem gemacht. Andere, jüngere waren in der 68er-Zeit erwachsen geworden und politisch nach wie vor interessiert. In ihren Reportagen schwang ein gesellschaftskritischer Unterton mit, der in den folgenden Jahren lauter und lauter wurde und zum linken Image des Fernsehens führte, wie wir es heute noch kennen. 

*

Dieses Umfeld, in das ich geraten war, gefiel mir natürlich, und meine Motivation, im Fernsehen das filmische Handwerk zu lernen, begann ich bereits zu vergessen. Die politische Botschaft war wichtiger. Schon im zweiten Monat der Probezeit schlug ich eigene Themen vor, die ich dann auch gleich selber verwirklichen durfte. 

Der erste realisierte Beitrag trug den unverfänglichen Titel «Zürcher Jugendarbeit wird koordiniert». Aber eigentlich setzte ich mich für «mehr Freiräume» ein, für Orte also, wo sich junge Leute selbstbestimmt aufhalten konnten. Für meine Reportage kehrte ich an meine eigenen Wurzeln zurück. Wir filmten an der «Riviera» mit ihren Stufen am Fluss, die noch immer einer der wichtigsten Treffpunkte war, von den Behörden als Drogenumschlagplatz jedoch immer weniger gern gesehen wurde. Und ich besuchte mit dem Kamerateam die Auffangstation, wo wir meine Kollegen aus jener Zeit bei einer Teamsitzung filmten. Zu Recht kritisiert wegen meiner mangelnden Empathie für die Besucher der Notschlafstelle, war ich damals mit gemischten Gefühlen gegangen – jetzt kehrte ich erhobenen Hauptes dahin zurück, als Reporter beim Schweizer Fernsehen. Seht her, signalisierte ich damit, jetzt bin ich auf dem richtigen Weg. Jetzt kann ich meine Stärken ausspielen…

und meine Schwächen vergessen lassen, würde ich heute hinzufügen.

Eine zweite Reportage in meinem Sinn porträtierte die progressive «Schultheaterberatungsstelle des Kantons Aargau», die mit Rollenspielen an den Schulen experimentierte; und die dritte Reportage berichtete über den Kampf für ein «selbstverwaltetes Jugendhaus» in der Altstadt von Winterthur. Der Ausgewogenheit halber interviewte ich auch den zuständigen Stadtrat, doch der ganze Tenor des Beitrags grenzte an Agitation für die Autonomie. Das erfüllte mich mit Genugtuung. Bereits war ich nicht mehr bloss der Reporter, der über Bienenzucht zu berichten hatte. Ich konnte meine Anstellung bei der «antenne» mit meiner Mission für eine bessere Welt verbinden.

Doch im gleichen Monat September wurde es Zeit. Zeit, die Waldegg zu verlassen.


Nächste Folge am 1. Dezember 


coverVom Autor soeben erschienen: «Orwells Einsamkeit - sein Leben, ‚1984‘ und mein Weg zu einem persönlichen Denken», lindtbooks 380 Seiten, broschiert. Erhältlich im Buchhandel - zum Beispiel bei Ex Libris oder Orell Füssli

Die Buchvernissage findet statt am 30. November 17 Uhr im «Zürcherhof» in Wald. Alle weiteren Informationen: www.nicolaslindt.ch

 

 

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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