Mit voller Kraft hinunter

Gisula Tscharner sammelte Wildkräuter und bot als fahrende Theologin Rituale an. Nach ihrer offiziellen Verabschiedung erlebte sie Unerwartetes.

«70 Lebens- und 45 Berufsjahre sind genug! Danke für die vielen Begegnungen und für die Feiern, die wir zusammen gestalten konnten.» Klipp und klar sind die Abschiedsworte auf Gisula Tscharners Website. Wer die sprühende Frau schon erlebt hat, wundert sich nicht. Geplapper ist ihr fern, ihren kernigen Botschaften liess sie stets Taten folgen. Seinen ureigenen Weg bahnt sich das Energiebündel seit jeher und scheut sich auch nicht, mit Konventionen zu brechen. Wahre Kostbarkeiten hat sie so ins Leben gerufen.
Als Wildkräuter-Sammelweib zog sie jahrelang durch die Bündner Wälder, kreierte Genüssliches zum Trinken und Schmausen und wurde mit ihrer «Wilden Weiber-Bar» und ihren delikaten Wildkräuterrezepten bekannt. 1993 gründete sie ihr «Geistiges Unternehmen» und bot als fahrende Theologin und Seelsorgerin ausserkirchliche Rituale an. Sie schlug eine Bresche für konfessionsfreie Menschen und erfand gleichzeitig einen neuen Beruf. Kaum zu glauben, dass die Wahlbündnerin Ende November 2017 ihren 70. Geburtstag gefeiert hat – so vital kommt diese Frau daher: eine «Berggeiss», wie sie sagt, die nach wie vor gern durch die Wälder streift, sammelt und im Dickicht übernachtet. Ihr «Geistiges Unternehmen» aber hat sie unwiderruflich zur Ruhe gelegt.

Loslassen

Zum richtigen Zeitpunkt, ist die Pionierin überzeugt, die weit über die Bündner Kantonsgrenzen hinaus Zeremonien zu Lebensübergängen gestaltet hat: von der Taufe über die Heirat bis zur Beerdigung, sodann Feiern und Rituale aller Art – mit Vorliebe unter freiem Himmel. Eine Lebenszeit, die es gebührend zu verabschieden galt: ihr Geburtstagswochenende feierte sie mit Zeremonien und einem grossen genüsslichen Fest. Gemeinsam mit ihren langjährigen Ritual-Freunden besuchte sie noch einmal alle ihre Zeremonienplätze, die sie mit grosser Dankbarkeit wieder freigab für die Natur. Ihr kostbares Beerdigungsgewand aus violetter Seide verbrannte sie im Krematorium dem Ort, an den sie so viele Menschen zum letzten Abschied begleitet hatte. Jetzt sei sie gespannt, was vor ihr liege ...
Zuerst fühlte sie sich wunderbar frei. «Endlich konnte ich meinem natürlichen Schlaf-Rhythmus folgen, ohne Wecker aufwachen. Ich erledigte unzählige Dinge und war vollumfänglich zufrieden.» Dann habe sie auch ihr Büro umgestellt: «Es geht ja darum, die Perspektive zu ändern.»

Ab ins Loch

Und dann geschah, womit sie nicht gerechnet hatte. «Aus dem Hinterhalt ergriff mich die Dunkelheit. Der Schatten, der mir gefolgt, und den ich nie wahrgenommen hatte.» Sie fiel in ein tiefes schwarzes Loch. Und noch immer sitze sie dort unten und wisse nicht, was sie noch zu sagen habe. «Hier drinnen lauern alte Geschichten, die ganz schweren Brocken, Alp-Träume von Handschellen, Panikattacken: «Zur Sesshaftigkeit gezwungen, nachdem ich vierzig Jahre lang ein Leben auf Eisenbahn- und Velorädern geführt habe, lässt mich in klaustrophobische Zustände fallen!

Out of control

Dann kam diese schlimme Grippe und riss sie mit gewaltigen Krallen ins Nichts. Ohnmachtsanfälle, Nasenbluten, als ob der ganze Lebenssaft, ihr Herzblut aus ihr hinauslaufe: «Hinab in die Unterwelt, die ich so niemals erwartet hätte.» Irgendetwas müsse hier in der Dunkelheit wohl noch «metamorphisieren»: «Im März habe ich mir noch Zeit gegeben zu jammern. Dann ist Schluss.» Ab Ostern müsse etwas Neues geboren werden. Um diese Zeit des Suhlens und der Scham zu begrenzen, helfe ihr nur eine disziplinierte Tagesstruktur – etwas, das gerade sie bis anhin nie gebraucht hat. Inmitten dieser tiefgreifenden Wandlung ihres selbst inszenierten Lebensrituals helfen der Ritualfrau auch keine Zeremonien mehr: «Etwas ist mir entglitten. Ich bin zur ‹Un-Heldin› geworden». Sagt es, und der alte Schalk blitzt auf trotz aller Widerwärtigkeiten. «Eins ist mir geblieben», sinniert sie: «Das Urvertrauen, dass auch das Sinn hat, was voll in die Hosen geht.» «Pannen sind ein grosser Wegweiser», hat sie andere gelehrt während ihrer «Pannenkurse bei Ritualen».

«Ein Loch ist nicht «Nichts», sondern ein Loch.» Geblieben ihr das Wissen: «Es wächst immer etwas, auch wenn es nicht sichtbar ist. Ich bin eine andere Gisula Tscharner, muss nichts mehr. Ich bin eine alte Frau.»
Das letzte Wort ist dies nicht. Man darf darauf vertrauen, dass aus diesem reichen Erfahrungsschatz noch einiges erspriessen wird.

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Bücher von Gisula Tscharner: Wald und Wiese auf dem Teller (2014), Hexentrank und Wiesenschmaus (2013), AT-Verlag