Es ist hart geworden für die Menschheit. Aber Härte allein wird uns nicht schützen. Es braucht auch Mitgefühl, sagen die Psychologen.

Illustrations: Banksy, Quelle: secretnews.fr

Natürlich gibt es immer noch Leute, die uns weis machen wollen, die Verhältnisse besserten sich, zumindest statistisch. In der Tat: Das globale Durchschnittseinkommen steigt, die Lebenserwartung, der Bildungsstand, die Produktion. Die Korruption sinkt, die Kriminalität, die Kindersterblichkeit und vielleicht sogar die Umweltverschmutzung. Das sind die positiven Nachrichten, die Leute gerne verbreiten, die von den bestehenden Verhältnissen profitieren, und die Menschen mit einer Abneigung gegen Verunsicherungen und Veränderungen gerne hören. Aber es wird nicht besser. Es wird härter.

Das Leben ist so unerträglich geworden, dass es hunderte Millionen auf der anderen Seite der Erde nicht mehr aushalten und weggehen wollen. Sie flüchten nicht freiwillig, sondern weil zu Hause eine menschenwürdige Existenz unmöglich ist. Auch auf unserer Seite des Globus ist das Überleben so anspruchsvoll geworden, dass eine noch grössere Zahl nur damit klar kommt, indem sie ein- oder mehrmals pro Jahr als Touristen verkleidet an einen Ort flüchten, wo man sich noch ein bisschen gutes Leben vorgaukeln kann.

Machen wir uns nichts vor: Auch die Nutzniesser all der Assistants, die uns das Leben erleichtern und die Zeit sparen sollen, es zu geniessen, diese Erfolgreichen des Augenblicks sind keineswegs glücklicher als die Normalos, die Überstunden machen müssen, während Arbeitslose stempeln gehen. Sie tun nur so und merken es nicht. Der Druck, der Stress und der eklatante Mangel an Sinn, in einer Welt des Zuviel noch mehr leisten zu müssen, erfasst alle Teilnehmer dieses Spiels und hinterlässt Spuren.
Man kann nicht 150 Jahre lang das Evangelium des Wettbewerbs und das Überleben des Stärksten predigen, ohne selber früher oder später ums Überleben kämpfen zu müssen. Und das müssen heute alle.

«Jedes Land auf der Welt hat gravierende wirtschaftliche Probleme.» Diese Feststellung machte nicht irgendwer, sondern William White, Vorsitzender des «Economic and Development Review Committee» der OECD und 1995 bis 2008 Chef des «Monetary and Economic Department» bei der Bank für Int. Zahlungsausgleich. In dieser Funktion kritisierte er den damaligen US-Zentralbankchef Alan Greenspan öffentlich und sah die Finanzkrise voraus. Vielleicht waren seine Worte damals zu sanft. In Frankfurt, an der prominent besetzten Konferenz «The Future of Money» vom vergangenen November wurde er in seiner Keynote deutlich: «Wir sollten uns auf das Schlimmste vorbereiten.» Aber nur rund 200 intelligente Leute mit gutem Willen, aber ohne Einfluss hörten ihm zu.

Die Probleme der Volkswirtschaften dieser Welt haben eine unterschiedliche Oberfläche: Einige sind zu wenig innovativ, andere exportieren nicht genug, wieder andere sind von Monopolisten abhängig, von Arbeitslosigkeit oder Bürokratie geplagt oder alles zusammen. Dabei geben sich alle redliche Mühe, und trotzdem wachsen die Probleme. Hinter den vielfältigen Symptomen verbirgt sich im Wesentlichen eine grosse Krankheit: Schulden – 40 Prozent mehr seit Ausbruch der Finanzkrise. Die Einen spüren sie. Sie stottern sich durch die Monate und kommen gar nie in die Lage, etwas zu ändern oder auch nur aufzubegehren – sie sind ja offenbar selber schuld an ihrem trostlosen Schicksal. Die Andern, die etwas ändern könnten an den Verhältnissen, spüren die Schulden nicht, weil sie sich in den Steuern, den Mieten und überhaupt allen Preisen verstecken, die wir bezahlen. Und dann gibt es noch eine dritte, sehr kleine Gruppe, die die Schulden sehr positiv wahrnimmt, weil sie von ihnen profitiert. Rund 30 Prozent des Bruttosozialprodukts kosten uns die Schulden dieser Welt. Das sind die Zinsen und Gewinne, die die Arbeitenden als leistungslosen Ertrag an die Vermögenden überweisen.

Unglücklicherweise haben wir unser weitgehend privates Geldsystem so eingerichtet, dass die Schulden ständig wachsen, bis wir sie eines Tages erlassen müssen. So lange wir dazu nicht bereit sind, wird der Wettbewerb schärfer, der Mangel grösser und das Leben härter. Bis zum Geht nicht mehr.

Natürlich erfasst diese Härte auch die Politik. Denken Sie nicht, die Handelskriege zwischen den USA, China und Europa hätten bloss mit den aggressiven Veranlagungen der beteiligten Staatsmänner zu tun. Und glauben Sie nicht, bei den Sanktionen und Kriegen gegen den Irak, Libyen, Russland, Venezuela oder Syrien gehe es um Demokratie, Menschenrechte oder Terrorgefahr. Es geht selbstverständlich um Ressourcen.

Auch innenpolitisch ist die Gangart unter Gegnern sehr viel ruppiger geworden. Politik ist zu einem Gladiatorenkampf verkommen, bei dem es nicht mehr um das austarierte Wohl der Allgemeinheit geht, sondern darum, den Gegner platt zu machen und sein eigenes Konzept durchzusetzen. Dafür braucht es die starken Männer, die wir hinterher für den Schlamassel verantwortlich machen können, den sie hinterlassen. Aber autoritäre Regimes sind das Produkt, nicht die Ursache der Verhärtung.

Der Stress im obersten Teil der Pyramide ist auch unser Stress an der Basis. Wir müssen immer schneller, innovativer und produktiver werden. Im April meldete die NZZ «eine dramatische Zunahme der Krankheitsfälle. Schuld ist der Arbeitsdruck.» Zu den bekannten Stressoren wie Termindruck, Überstunden und Angst vor Arbeitsplatzverlust ist in den letzten Jahren noch der «Digitalstress» hinzugekommen, unter dem, gemäss einer neuen Studie der Universität Augsburg, mehr als ein Drittel der deutschen Arbeitnehmer leidet. Interessanterweise sind Junge zwischen 25 und 34 Jahren, denen eine erhöhte Affinität zu allem Digitalen zugesprochen wird, besonders davon betroffen. Das stimmt nicht gerade optimistisch in Bezug auf die grosse Digitalisierung, mit der das Leben radikal optimiert werden soll. Die Sollbruchstelle «Mensch» lässt sich eben nicht eliminieren, da er die ganze Sache plant und überwacht. Es könnte durchaus sein, wie einige befürchten, dass wir die Bequemlichkeit mit sehr viel weniger Freiheit bezahlen.

Die wachsende Härte treibt nicht nur das System an seine Grenzen, sondern greift auch das Leben an sich an. In den USA – wo noch immer die Trends gesetzt werden – sinkt die Lebenserwartung seit 2015. Schuld sind die Suizide und die Drogentoten. In der Schweiz leidet ein Drittel der Menschen an Schlafstörungen. Das gilt zwar statistisch nicht als Krankheit, ist aber eine Vorform dazu. Natürlich kann man auch daraus ein Geschäft machen: 31 Schlaflabors gibt es mittlerweile in der Schweiz und eine Krankenkasse bietet sogar ein Online-Schlaftraining an.

Wie reagiert der Mensch auf die zunehmende Verhärtung, deren Ursache er ja höchstens vage erkennt? Als erstes versucht er, selber härter zu werden. Er übernimmt die Vorgaben, optimiert seine Planung und wird effizienter – für eine Weile. Das sind die Daueroptimisten, die ernsthaft ihre Listen abarbeiten und die Weltmärkte erobern. Weil die Freude am Leben dabei verloren geht, haben einige US-Konzerne bereits Stellen für «Chief Fun Officers» geschaffen. In den Schützengräben des globalen Wettbewerbs soll hie und da ein bisschen gefeiert werden!
Etwas tiefer greift die Stärkung der Resilienz, der Widerstandskraft, die in den USA unter Wirtschafts- und Bildungspsychologen seit Kurzem Furore macht. Die Psychologin Anna Rowley, die Führungskräfte von Microsoft und anderen Multis berät, hält die Widerstandskraft für «die wichtigste Fähigkeit», die es zu kultivieren gilt. Wer in einer Welt mit wachsenden Herausforderungen und wiederholten Rückschlägen glücklich sein wolle, müsse «zuerst lernen, stark zu sein». Dies steht in einem gewissen Gegensatz zu den Erkenntnissen von Emmy Werner, der Pionierin der Resilienzforschung. Aufgrund von Vergleichsstudien mit 700 Kindern kam sie in den 1950er-Jahren zum Schluss, die Basis für Resilienz werde in den frühen Lebensphasen gelegt, durch gute Beziehungen zu mindestens einem Familienmitglied, eine unterstützende Umgebung und das Gefühl, akzeptiert zu sein.

Wie es scheint, lässt sich das nachholen. Erworben wird mentale Widerstandskraft in in Kommunikationskursen, Stressmanagement, Umgang mit Gefühlen, Yoga, Theaterimprovisation oder Geschichtenerzählen, wie sie sogar mit Fünftklässlern durchgeführt werden, offenbar mit Erfolg. «Resilienz ist das neue Glück», lautet das Motto.

Das tönt nett, geht aber tiefer: Eine Studie der Universität Wisconsin vom vergangenen Mai ergab, dass bloss zwei Wochen täglicher Meditation in Mitgefühl die Studenten widerstandsfähiger angesichts menschlichen Leidens machte. Und nicht nur das: Sie entwickelten auch eine höhere Hilfsbereitschaft. Die Autoren der Studie vergleichen das Mitgefühl mit einem Muskel, der trainiert werden kann und uns gleichzeitig belastbarer macht. Zwei Fliegen auf einen Schlag, das scheint überzeugend. Aber wie lange werden das vertiefte Mitgefühl und die erhöhte Belastbarkeit hinhalten, wenn die Misere an den Frontlinien der Weltwirtschaft weiter zunimmt?

Auf Dauer gibt es nur eines: Raus aus dem Schützengraben! Dabei helfen uns dieselben Gaben, die es uns ermöglichen, im Schützengraben Mensch zu bleiben: Mitgefühl und Widerstandsfähigkeit in Kombination. Belastbarkeit allein macht uns zum Rambo auf dem Weg zu einem sinnlosen Heldentod. Mitgefühl allein ertränkt uns im Schmerz. Aber mit beiden Qualitäten werden wir ausserhalb der Schützengräben eine Welt entdecken, die nichts so sehr braucht wie Menschen mit harter Schale und weichem Kern.
Sicher für alle, auch für die Ängstlichen und Zerbrochenen, wird es natürlich erst, wenn der Krieg beendet wird. Das sollte unser übergeordnetes Ziel bleiben.

Kriege kann man nicht durch Kampf und Sieg beenden, sondern indem man einfach mitzuspielen aufhört, also durch passiven Widerstand. Dafür gibt es in der Geschichte viele leuchtende Beispiele. Und auch hier sind die Qualitäten erforderlich, die uns das Überleben im Schützengraben ermöglichen: Wahrnehmung, Mitgefühl und Belastbarkeit. Auch wer passiven Widerstand leistet, muss seinen Gegner erkennen, sonst wird sinnlos Kraft vergeudet. Ohne Mitgefühl wird er zum sturen Einzelkämpfer in einem Kampf, den wir nur gemeinsam beenden können. Und ohne Belastbarkeit wird er vom Elend seelisch erschlagen, das er beseitigen will. Auch hier gilt die alte Wahrheit der Mythen: Wer den Drachen besiegen will, muss ihm ins Auge blicken. Dann wird er weichen wie ein Albtraum. Und die Welt kann endlich erwachen.

  

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Christoph Pfluger

Submitted by admin on Do, 07/13/2017 - 08:33

Christoph Pfluger ist seit 1992 der Herausgeber des Zeitpunkt. "Als Herausgeber einer Zeitschrift, deren Abobeitrag von den Leserinnen und Lesern frei bestimmt wird, erfahre ich täglich die Kraft der Selbstbestimmung. Und als Journalist, der visionären Projekten und mutigen Menschen nachspürt weiss ich: Es gibt viel mehr positive Kräfte im Land als uns die Massenmedien glauben lassen".

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