3 Fragen an Naturcoachin Ursula Seghezzi
Die gebürtige Schweizerin, die seit 2014 im Wendland lebt, bietet mit ihrem Mann seit mehr als 20 Jahren Naturrituale und Naturcoachings für Einzelpersonen und Gruppen an. Die Heilpraktikerin hat nicht nur chinesische Medizin studiert, sondern auch zu Mythen, Märchen und Naturritualen geforscht. Sie hat verschiedene Bücher zur Naturmystik geschrieben, hält Vorträge und begleitet Menschen auch bei längeren Prozessen wie mehrtägigen Waldzeit-Visionssuchen. Das von ihr gegründete «uma institut» in Norddeutschland beherbergt seit 10 Jahren ein eigenes Seminarhaus. Im Interview mit dem Zeitpunkt erklärt sie, worin ein Naturcoaching besteht und warum das In-Kontakt-Treten mit der Natur uns gerade in der aktuellen Situation sehr helfen kann.
Zeitpunkt: Sie begleiten seit vielen Jahren Menschen mit Naturcoaching. Was passiert dabei und inwiefern unterscheidet sich diese Form von Coaching von klassischen Therapien in den Räumlichkeiten einer Praxis?
Ursula Seghezzi: Jede Form von Coaching besteht in der Begleitung von Menschen in Prozessen, seien diese persönlicher oder beruflicher Art. Dabei gibt es zahlreiche Methoden – auch innerhalb des Naturcoachings. Ich und mein Mann arbeiten so, dass wir die Natur sozusagen als Hauptakteurin mit ins Boot holen, so dass das Coaching nicht nur zwischen Coach und Klient oder Klientin stattfindet. Ich schicke die Menschen mit verschiedenen Impulsen – einer Art Spielanleitung – in die Natur, und wenn sie zurückkommen, sprechen wir darüber, was dort passiert ist. Als Aufgabe gebe ich ihnen zum Beispiel mit, sie sollen eine Schwelle bauen, aus Ästen, Steinen oder anderem Material. Dann sollen sie diese Schwelle ganz bewusst übertreten und in den Raum hineingehen, der sich ihnen öffnet. In diesem Raum hat alles eine Bedeutung, es ist wie ein Zauberland. Man bekommt Hinweise, und alles hängt mit dem Anliegen zusammen, auf Grund dessen die Person das Coaching wollte. Anders als im Innenraum einer Praxis gibt es in der Natur sehr viele Einflüsse. Drinnen ist alles sehr kontrolliert, doch draussen kann Unerwartetes passieren. Käfer, Hunde, Bäche, Tannzapfen oder Jäger – alles kann einem begegnen und etwas aufzeigen.
Der Naturgang kann mehrere Stunden in Anspruch nehmen. Danach arbeiten wir mit dem Erlebten. Dadurch bewegt sich das Coaching nicht nur auf einer analytischen Ebene, sondern basiert auf dem persönlichen Erleben und Reflektieren der Menschen. Der Kontakt mit der Natur löst meistens viel mehr aus, als ich in einem Gespräch erreichen könnte. Denn es kommen Dinge ans Tageslicht, nach denen man als Coach wahrscheinlich gar nie gefragt hätte. Während eines Gangs durch die Natur wächst man in ein ganz anderes Lebensgefühl hinein, als man dies in den Innenräumen einer Praxis tun würde. Man gewinnt einen anderen Blick auf das Leben und seine aktuellen Herausforderungen. Ein Blick über den Tellerrand sozusagen.
Doch wie kann man diese Erfahrung auf den Alltag übertragen und so in seinen Prozessen weiterkommen?
Auf verschiedenen Ebenen. Einerseits hilft das In-Beziehung-Treten mit der Natur, auch wieder offener und mitfühlender mit Menschen in Beziehung zu treten. Anderseits beobachte ich bei fast allen Klientinnen und Klienten, dass sie durch die Naturerfahrung beginnen, eigene Verhaltensmuster oder Blockaden zu reflektieren. Alle Menschen haben ihre Geschichten und Traumata. Im Kontakt mit Menschen werden diese ständig getriggert, doch in der Natur fällt dies weg. Man wird nicht gewertet und entwickelt ein Gefühl von unhinterfragter Zugehörigkeit. Dies ist für viele eine einschneidende oder sogar erschütternde Erfahrung, denn unser aktuelles Weltbild suggeriert, dass wir von der Natur getrennt sind. Wenn wir uns wieder mehr zugehörig fühlen, hilft das, auch mit unserer eigenen Gattung wieder in Beziehung zu treten.
Im Kontakt mit Menschen werden ständig die eigenen Traumata getriggert, doch in der Natur wird nicht gewertet.
Es kommt oft vor, dass Klientinnen und Klienten mit einer anderen Körperhaltung zurückkommen, aufrechter gehen. Ich erinnere mich an einen, der sich auf einen Baumstumpf setzte und um sich schaute, und plötzlich das Gefühl hatte, ein König zu sein. Und das sah man ihm an. Ein anderer suchte eine Antwort auf die Frage, was er mit seiner Zukunft machen sollte. Er fand im einsamen Wald einen Meterstab und interpretierte das so, dass er seine Zukunft Schritt für Schritt bemessen müsse.
Wie kann uns die Natur in der aktuellen Krisensituation helfen, mehr zu uns selbst zu kommen und die gesundheitlichen, gesellschaftlichen sowie psychischen Herausforderungen zu bewältigen?
Der Coronavirus ist unter anderem deshalb so ein grosser Trigger für die Menschheit, weil er die Frage nach der Beziehung zwischen Mensch und Natur aufwirft. Unsere Strategie, mit dieser Herausforderung umzugehen, zeigt auf, welche Aspekte dieser Beziehung wir schon gut bewältigen. Auf der anderen Seite wird deutlich, womit wir schon vorher ein Problem hatten. Zum Beispiel mit der erwähnten Trennung zwischen Mensch und Natur. Jetzt hätten wir die Chance, an diesem Thema zu arbeiten. Es ist ein Moment, in dem Transformation und Heilung möglich wäre, doch stattdessen laufen wir nochmals voll in die Spaltung hinein, nicht nur mit der Natur, sondern auch innerhalb des menschlichen Kollektivs.
Ein Naturgang kann in dieser Situation unter anderem bewirken, dass man die Situation nicht mehr so dramatisch sieht und nicht gleich alle roten Knöpfe drückt. Es kann der Ausgangspunkt sein für einen Anlauf, um anderen Menschen neu zu begegnen und aus dem individuellen und kollektiven Drama herauszukommen. Schliesslich ist die Natur der Ort, von dem wir alle herkommen und zu dem wir gehören, ob wir wollen oder nicht.
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