Sie verloren ihre Töchter – und wurden Freunde
Zwei Väter – ein Israeli und ein Palästinenser – gemeinsam für Frieden und Gerechtigkeit
Smadar, ‹die Weinrebe› aus dem Hohelied Salomos, war lebhaft, fröhlich, eine gute Schülerin, spielte Klavier und liebte Jazz. 1997 starb sie, 14 Jahre alt, bei einem palästinensischen Selbstmordattentat: «Sie wollte Schulbücher kaufen und sich später für einen Jazzdance-Kurs anmelden. Ein schöner ruhiger Tag. Sie bummelte mit ihren Freundinnen die Strasse hinunter und hörte Musik», erzählt ihr Vater. Beerdigt wurde sie neben ihrem Grossvater, General Matti Peled, der sich für einen gerechten Frieden für Palästina und Israel eingesetzt hatte.
Rami Elhanan, Israeli. Nach dem Tode seiner Tochter hatte Rami Rachegedanken. Dann lernte er einen orthodoxen Rabbiner kennen, dessen Sohn als Soldat 1994 von der Hamas entführt und getötet worden war. Der Rabbiner hatte den Parents Circle gegründet, für Palästinenser und Israelis, die Angehörige verloren hatten und trotzdem Frieden wollten. Im Parents Circle realisierte Rami zum ersten Mal, dass Palästinenser menschliche Wesen sind: «Dann sah ich diese Frau, ganz in Schwarz, in einem traditionellen Kleid und mit Kopftuch – eine Frau, die ich an einem anderen Ort vielleicht für die Mutter eines der Mörder meines Kindes gehalten hätte. (...) Sie hielt ein Foto ihrer Tochter vor der Brust. (...) Ich war wie vom Donner gerührt: Diese Frau hat auch ihr Kind verloren. (...) Der Schmerz dieser Frau unterschied sich in nichts von meinem Schmerz.» Zudem erkannte Rami, dass es in der israelischen Politik nicht um «Sicherheit» geht, sondern darum, «andere Menschen zu beherrschen, ihr Leben, ihr Land, ihren Kopf. Es geht um Kontrolle. Das heisst um Macht.»
Abir, ‹Duft der Blüte› aus dem Altarabischen. Sie zeichnete gerne und wollte später Ingenieurin werden. 2007 wurde sie von einem jungen israelischen Grenzpolizisten getötet, «der sein Gewehr hinten aus dem Jeep schob und direkt auf sie zielte.» Sie war zehn Jahre alt. Während der Pause hatte sie zwei Armbänder aus Zuckerperlen gekauft. «Auf dem Rückweg zur Schule schenkte Abir das zweite Armband ihrer Schwester Areen,» schreibt ihr Vater. Kurz vor dem Schultor traf sie der Schuss am Hinterkopf. Da man ihr im örtlichen Spital nicht helfen konnte, sollte sie in ein Spital nach Israel verlegt werden. Am Checkpoint wurde der Krankenwagen zwei Stunden aufgehalten. Im Spital starb Abir.
Bassam Aramin, Palästinenser. Er wuchs unter israelischer Besatzung auf: «Sie kommen in Jeeps und Panzerfahrzeugen, patrouillieren auf den Strassen und sagen, zeig mir deinen Ausweis, stell dich an die Wand, halt’s Maul, umdrehen, runter auf den Boden. Sie stürmen in dein Zuhause, sperren es ab, schlagen alles kurz und klein. (...) Sie verhaften deinen Vater, deine Brüder, deinen Onkel.» Mit 12 Jahren erlebte er an einer Demonstration wie ein Junge von einer Kugel tödlich getroffen wurde. «In diesem Augenblick entstand in mir ein tiefes Verlangen nach Rache», so Bassam. Nach einem Angriff auf israelische Militärjeeps kam er mit 17 Jahren ins Gefängnis.
Dort befasste er sich mit der jüdischen Geschichte, lernte hebräisch und las Schriften von Gandhi und Martin Luther King. «Und mit der Zeit dachte ich, dass sie vielleicht recht hatten, dass sich Frieden nur durch Gewaltverzicht und Widerstand erreichen lässt», so Bassam.
1992 kam er frei, gründete eine Familie und setzte sich für ein Ende der israelischen Besatzung ein. 2005 begannen er und drei andere Palästinenser sich heimlich mit ehemaligen israelischen Soldaten zu treffen: «Wir begegneten uns als Feinde, die miteinander reden wollten.» Nach vielen Gesprächen gründeten sie die israelisch-palästinensische Organisation Combatants for Peace.
Nach dem Tode von Abir schloss sich Bassam dem Parents Circle an und begann sich zusammen mit Rami Elahan für einen gerechten Frieden zwischen Palästina und Israel einzusetzen.
Quelle: Colum McCann: Apeirogon. Rowohlt, 2022.
In diesem Bestseller auf der Grundlage der wahren Geschichte von Bassam Aramin und Rami Elhanan beantwortet der Autor Colum McCann die zeitlosen Fragen: Wie leben wir weiter, wenn das Liebste verloren ist? Und: Wie kann der Mensch Frieden finden? Mit sich selbst, mit anderen.
Veranstaltungsreihe mit Bassam Aramin und Rami Elhanan in der Schweiz
15. bis 22. November 2022
Zürich: Dienstag, 15. November, 19.30 Uhr, Reformierte Kirche Offener St. Jakob am Stauffacher
Winterthur: Mittwoch, 16. November 2022, 19.30 Uhr, Reformiertes Kirchgemeindehaus, Liebestrasse 3
Bern: Donnerstag, 17. November 2022, 19.30 Uhr, Haus der Religionen – Dialog der Kulturen, Europaplatz 1
Fribourg: Freitag, 18. November 2022, 19.30 Uhr, Werkhof, Planche-Inférieure 14
Lausanne: Samstag, 19. November 2022, 18.30 Uhr, Espace Dickens, Avenue Charles Dickens 4
Genf: Sonntag, 20. November 2022, 18.30 Uhr, Centre de l’Espérence, Rue de la Chapelle 8
Basel: Montag, 21. November 2022, 19.00 Uhr, kHaus. Kasernenhof 7
Freiburg i.Br.: Dienstag, 22. November 2022, 19.00 Uhr, Grosser Hörsaal der Evangelischen Hochschule, Gebäude B, Bugginger Strasse 38
Organisation:
Ina autra senda – Swiss Friends of Combatants for Peace: https://www.facebook.com/inaautrasenda
Schweizer Freundinnen und Freunde von Neve Shalom • Wahat al-Salam • Oase des Friedens: https://nswas.ch
Kontakte: Jochi Weil, [email protected], 079 383 34 08
Gabriel Oser, [email protected], 079 712 96 27
Download Flyer (pdf)
von:
Über
Ariet Güttinger
Dr. phil. Henriette Hanke «Ariet» Güttinger war von April bis Juli 2018 im Einsatz als Menschenrechtsbeobachterin in Palästina/Israel. Während dieser drei Monate führte sie minutiös Tagebuch über ihre Tätigkeit. Sie berichtet mit einer bewundernswerten Genauigkeit und Sorgfalt über das, was sie gesehen, gehört und erlebt hat. Die Eintragungen sind nicht im Nachhinein, sondern während ihres Aufenthalts entstanden, Tag für Tag. Die Autorin macht damit wohl etwas vom Wichtigsten, das überhaupt getan werden kann: sie gibt den Menschen in Palästina eine Stimme.
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