Ein Sohn trifft seinen Vater
Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.
An einem Freitagabend vor ein paar Wochen, auf der Rückreise von Italien, machen wir einen Zwischenhalt im Tessin. In Bellinzona finden wir eine Pizzeria, wir haben Hunger, entscheiden uns für Spaghetti und stellen beim Blick in die Runde fest, die Pizzeria ist gut besucht, viele Einheimische sind vertreten, es herrscht fröhliche Wochenendstimmung.
Etwas später, wir sind schon fast fertig mit Essen, betreten ein älterer Mann und ein junger Mann das Lokal, und sie setzen sich an den Nebentisch, so dass wir alles hören, was sie zueinander sagen. Es sind Deutschschweizer, der Ältere ist vielleicht Mitte 50, der junge Mann etwa 18. Der Ältere bestellt bei der Kellnerin, als würde er hier öfter verkehren, jedenfalls kennt sie ihn, er kennt sie, er versucht es mit Italienisch, dann wechselt er wieder ins Schweizerdeutsche.
Nachdem sie bestellten, haben sie Zeit, ein Gespräch zu beginnen, und der Mann fragt als erstes, wie ist es gelaufen an der Lehrabschlussprüfung? Daraus schliessen wir, die beiden sind Vater und Sohn, und offenbar sieht der Vater seinen Sohn nicht jeden Tag, deshalb muss er ihn fragen, wie es an der Prüfung gelaufen sei. Die Eltern, so vermuten wir weiter, könnten geschieden sein und der Sohn besucht jetzt am Wochenende den Vater hier im Tessin. Er erzählt ihm, die Prüfung sei gut gelaufen, nennt die einzelnen Fächer und beschreibt dem Vater, was er im Deutschaufsatz schrieb.
Darauf stockt das Gespräch für einen Moment, worauf der Sohn aufs Neue das Wort ergreift und berichtet, er werde jetzt mit zwei Kollegen zusammenziehen. Sie hätten auch bereits eine Wohnung besichtigen können, und er zeigt dem Vater Bilder von der Wohnung auf seinem Handy.
Für einen Moment gibt das wieder Gesprächsstoff, dann verstummt die Unterhaltung erneut, der Sohn wirkt etwas blockiert, er schaut selten auf, und als die Kellnerin mit den Getränken kommt, beschäftigt er sich mit dem Fläschchen, dreht es hin und zurück. Das macht auch den Vater unsicher, er greift zu den Zigaretten und zündet sich eine an, so sitzen sie sich gegenüber und kämpfen mit sich und mit der Distanz, die sie nicht überwinden können.
Dann sagt der Vater ins Schweigen hinein, bei ihm habe sich noch nichts Neues ergeben, er sei noch immer auf Stellensuche. Er erzählt dem Sohn, dass er sich einmal pro Woche nach Zürich begeben muss, um sich mit seinem Coach bei der Arbeitsvermittlungsstelle zu treffen. Der Coach soll ihm helfen, wieder eine Stelle zu finden.
Sonst aber lebt der Vater offenbar hier in Tessin in einem Haus, das vielleicht schon den Eltern gehörte. Er arbeitet an der Fassade, erzählt er dem Sohn, er gestaltet den Grillplatz neu, das schildert er so detailliert, als habe er Angst vor der Sprachlosigkeit, die danach wieder eintreten wird. Fast nahtlos geht er über zum nächsten Thema und erwähnt einige andere Deutschschweizer, die er hier kennengelernt hat und manchmal im Dorflokal trifft. Als dem Sohn nichts dazu einfällt, erzählt der Vater, einer der Deutschschweiz sei ein Musikfan wie er, der Vater, und sie hätten beschlossen, im Sommer alle Festivals hier im Tessin zu besuchen. Darauf freue er sich. Abgesehen davon, meint der Vater, wolle er einfach leben, das könne man gut im Tessin.
«Einfach sein», sagt er wörtlich, «verstehst du?» Der Sohn nickt, aber ich bin nicht sicher, ob er versteht. Ob er verstehen will, dass der Vater in seinem Rustico hockt und nichts tut.
Die von der Kellnerin gebrachten Pizzas sorgen eine Weile für Ablenkung. Beide, Vater und Sohn, sind mit Essen beschäftigt, und es schmeckt ihnen. Die Stimmung am Nebentisch lockert sich etwas, und der Vater freut sich, dass der Sohn bis und mit Sonntag bleibt.
Darauf erwidert der Sohn, er müsse schon am Sonntagmorgen wieder nach Hause. Warum, fragt der Vater erstaunt – und dann erfährt er, die Mutter habe dem Sohn nach bestandener Prüfung eine Städtereise nach Wien geschenkt, und der Flug sei schon am Sonntag. Der Vater ist überrascht, er hat davon nichts gewusst, doch er bemüht sich, dem Sohn seine Enttäuschung nicht zu zeigen, und fragt nach Einzelheiten der Reise, obwohl er es gar nicht wissen will.
Es trifft den Vater, dass der Sohn schon früher nach Hause fährt. Und es setzt ihm zu, dass er mit der Mutter etwas erleben wird, während er, der Vater, allein bleibt. Er würde selber gern mit dem Sohn ein paar Tage in Wien verbringen. Oder er würde vielleicht sogar selber gern mit seiner ehemaligen Frau wieder zusammen sein.
Julia und ich hören alles, was vom Nebentisch an unser Ohr dringt, und immer wieder treffen sich unsere Blicke. Wir müssen nicht aussprechen, was das Vernommene in uns auslöst. Die Trennung der Eltern hat bestimmt ihre Gründe und ihre Vorgeschichte, und sie war vielleicht unvermeidbar. Aber sie hat Vater und Sohn auseinandergerissen, und jetzt finden sie nicht mehr zusammen. Jetzt sitzen sie sich gegenüber in einer Pizzeria in Bellinzona und sind sich fremd.
Wie viele solche Treffen gibt es am Wochenende, wie viele geschiedene Väter sitzen an diesem Abend mit ihren Söhnen und Töchtern in beliebigen Restaurants und ringen um jedes Wort, das vielleicht die Distanz überbrücken hilft. Mir liegt auf der Zunge, sie anzusprechen, den Sohn und den Vater, und irgendetwas zu sagen, etwas Tröstendes, etwas, das den Schmerz lindert. Aber ich sage nichts. Man müsste stundenlang reden. Man müsste ganz am Anfang beginnen.
Eigentlich, sage ich leise zu Julia, möchte man die beiden einfach nur in den Arm nehmen. Damit sie sich wieder spüren. Damit sie sich in die Augen sehen und sich erinnern: Du bist mein Vater und du bist mein Sohn.
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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