Statt für die Matur zu lernen, zog es ihn in die Welt, nach Irland – sogar in das bürgerkriegs-geschüttelte Nordirland. Was er dort erlebte, war eine Lektion in Konflikt und Menschenkenntnis.

Whiterock Road, Belfast. Time for Peace, Time to Go, Foto: Miossec, Wikipedia

Liebe Maturandinnen, liebe Maturanden, geschätzte Anwesende!

Vor vielen Jahren befand ich mich hier, an derselben Stelle wie ihr, um das Maturzeugnis entgegenzunehmen. Die Aula gab es schon damals – der einzige Unterschied war: dass die Mädchen fehlten. Denn die Geschlechter damals waren getrennt im Gymnasium, und es war eine harte Zeit, ohne Mädchen.

Schulzimmer

Bis Ende August hat die 5-Minuten-Podcast-Kolumne von Nicolas Lindt Sommerpause. Damit wir nicht auf seine Texte verzichten müssen, veröffentlicht der Zeitpunkt jeden Donnerstag ein Kapitel aus seinem Buch «Im Schulzimmer des Lebens».

Am schwierigsten jedoch war das letzte Jahr – hauptsächlich deshalb, weil man das Ziel, die Matur, schon vor Augen, aber noch immer nicht ganz erreicht hatte. Mit den Gedanken, mit den Gefühlen war man schon draussen im Leben, und doch musste man lernen und büffeln, um die Tür ins Leben öffnen zu können.

Wie habt ihr die Sommerferien vor der Matur verbracht? Natürlich mit Lernen, nehme ich an. Ich nicht. Ich hätte das nicht mehr ausgehalten, zu Hause zu bleiben, die Ferne lockte mit aller Macht. Es zog mich fort aus der Schweiz, und ich wollte nach Irland. Für Irland schwärmte ich damals schon: Sie war für mich die Insel der Dichter – und die Insel des Kampfes.

Denn zu Irland gehörte auch Nordirland, und in Nordirland herrschte, seit dem Ende der Sechziger Jahre, der Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Protestanten. Ich verfolgte, was dort geschah, mit Anteilnahme und Engagement.

Die Geschichte, die ich erzählen möchte, beginnt eines Abends nördlich von Dublin, in der ersten Woche der Sommerferien, im Juli des Jahres 1972. Mit einem Schulfreund zusammen wollte ich durch Irland per Autostopp reisen. Wir waren zu einem vergünstigten Tarif bis Dublin geflogen und wanderten nun erwartungsvoll, für jedes Abenteuer bereit, auf der Strasse, die vom Flughafen weg, hinüber zur Überlandstrasse führte. Heute verläuft dort vielleicht eine Autobahn; damals gab es noch keine. Hecken säumten die Strasse, dahinter erstreckten sich Wiesen, und am Himmel, von der Abendsonne gerötet – ich sehe das noch genau vor mir –, türmte sich ein mächtiges Wolkengebilde.

Die beiden Wegweiser an der Landstrasse lasen wir schon von weitem. Der eine, der nach rechts, Richtung Süden zeigte, trug die Aufschrift «Dublin», und dahin wollten wir. Unsere Absicht war es, in die Stadt zu gelangen, um von dort aus, am folgenden Tag, mit Autostopp in den Westen Irlands zu trampen.

Aber da war noch das andere Schild. Es zeigte nach links, Richtung Norden: Es zeigte nach «Belfast» – und als ich es sah, diesen Namen sah, wusste ich augenblicklich, dass ich keinerlei Lust verspürte, bloss in Irland herumzureisen. Ich wollte nach Nordirland. Ich wollte erleben, wie es ist, wenn ein Land sich im Ausnahmezustand befindet, und mein Schulfreund wollte zum Glück dasselbe.

Bedenken hatten wir keine. Wir waren erst 18 damals und vom Feuer des Lebens noch unversehrt.
Wo etwas brannte, etwas passierte, zog es mich hin. Ich musste dabeisein. Ich hielt das Aussergewöhnliche, das Gefährliche für das Leben selbst, und ich war schon zu weit von meiner Kindheit entfernt, um mich zu fürchten.

Wir hatten unsere Rucksäcke eben erst hingestellt und den Daumen gestreckt, als schon ein Wagen neben uns stoppte. Es war ein kleiner roter Kastenwagen, ein zerbeultes Gefährt, das bessere Tage gesehen hatte. Hinten befand sich der Laderaum, vorne sassen zwei Männer drin, proletarische Typen, doch vor allem waschechte Iren. Bis nach Belfast fuhren die beiden nicht; über die Grenze aber, sagte der Mann am Steuer, könnten wir mitkommen.

Das war ein Angebot – wir würden noch am Abend in Nordirland sein, in the north, wie die Männer sagten, mit einem Akzent, der so irisch war, dass dem Englischen darunter die Luft ausging. Die Bereitwilligkeit, mit der sie uns halfen, unsere Rucksäcke einzuladen, werteten wir als erstes Zeichen irischer Gastfreundschaft. Dann zwängten wir uns selbst in den Laderaum. Die verheissungsvolle Fahrt in den Norden begann.

Sehr komfortabel war es in diesem Laderaum nicht; wir mussten den Platz mit zwei grossen Säcken teilen, und das einzige Fenster ging nach vorn, zu den beiden Männern, sodass unser Ausblick ziemlich beschränkt war. Aber das störte uns wenig. Unterwegs zu sein, das allein zählte.

Nordirland

Plötzlich wurde uns klar: Es handelte sich um Waffen.

Auch die beiden Säcke kümmerten uns zunächst nicht besonders. Dann, nach einer Weile begann ich, sie beiläufig abzutasten. Erde, Kohle oder so etwas enthielten sie nicht, ihr Inhalt fühlte sich hart an, es waren Gegenstände, metallene Gegenstände – und plötzlich wurde uns klar: Es handelte sich um Waffen. Als wir das merkten, als wir es aussprachen, herrschte auf einmal Hochspannung. Mit einer solchen Entwicklung der Dinge hatten wir nicht gerechnet.

Noch bevor wir aber etwas entscheiden konnten, verlangsamten die Männer die Fahrt. Sie bogen ab und liessen den Wagen auf einem Parkplatz zum Stillstand kommen. Der Parkplatz gehörte zu einem Pub, es war das letzte Pub vor der Grenze, und die Männer nahmen uns mit auf ein Bier.

Minuten später trank ich zum ersten Mal, aus einem Kübel von einem Glas, das berühmte dunkle irische Guinness. Ich fand es abscheulich; aber das spielte jetzt keine Rolle. Erst seit einer Stunde in Irland zu sein und bereits mit Waffenschmugglern der Irish Republican Army in einem Pub zu sitzen, war so unerhört aufregend, dass ich den bitteren schwarzen Saft ohne Zögern hinunterspülte. Ob die Männer tatsächlich IRA-Mitglieder waren, konnten wir nur vermuten; doch alles, was sie sagten, wies darauf hin, dass sie die Waffen in ihrem Auto nicht nur für die Kaninchenjagd brauchten.

Zuerst, so schien es, wollten sie sich vergewissern, ob sie uns trauen konnten. Und wie sie das konnten! Was in Nordirland geschah, hatte mich schon zuhause brennend interessiert. Meine Sympathien, das war keine Frage, gehörten der katholischen Seite, nicht aus Gründen des Glaubens – was mir damals ziemlich egal war –, sondern weil die Katholiken die Minderheit und benachteiligt waren.

Als im gleichen Jahr 1972, an einem Sonntag im Januar, britische Truppen das Feuer auf katholische Demonstranten eröffneten und 13 von ihnen töteten, hatte auch ich mich darüber empört. Meine Solidarität war leidenschaftlich und radikal. Ich fand die britische Herrschaft über Nordirland ungerecht und den Kampf der IRA gerecht. So dachte ich, so dachten wir beide; und der jugendliche Eifer, mit dem wir unsere Haltung zum Ausdruck brachten, war so ehrlich, dass uns die Männer sogleich ihr Vertrauen schenkten. Sie bestellten eine zweite Runde und diskutierten mit uns
über Nordirland, über das Gefühl der Unfreiheit und die Notwendigkeit der Gewalt. So wie man nur mit Leuten spricht, die auf der gleichen Seite stehen.

Als es draussen dunkel wurde, erklärten die beiden Iren, es sei nun Zeit, aufzubrechen. Wir, ich und mein Kamerad, hätten theoretisch immer noch aussteigen können; doch es war keine Frage – wir gingen mit.

Auf die Kontrolle durch die Armee hatten uns die Nordiren vorbereitet. 

Denn bereits fühlten wir uns wie Verbündete, ja mehr noch, wie Eingeweihte. Endlich war ich nicht mehr bloss ein harmloser Jugendlicher, der die Geschehnisse nur aus der Zeitung kannte; endlich war ich selber Akteur. Die Spannung stieg, als das Scheinwerferlicht unseres Wagens eine am Strassenrand stehende Tafel erfasste. «Patrol 150 yards ahead» sagte die Tafel – der britische Kontrollposten befand sich unmittelbar vor uns.

Auf die Kontrolle durch die Armee hatten uns die Nordiren vorbereitet. Doch erst jetzt, da es zu spät war, begriffen wir, in welche Falle wir da geraten waren. Was würde geschehen, fragten wir uns mit unmännlich klopfenden Herzen, wenn die Soldaten die Waffensäcke entdeckten?

«Sie kontrollieren nur selten», hatte uns der Fahrer versichert, der bis zuletzt nicht von Waffen, sondern lediglich von einer ‚wichtigen Lieferung‘ sprach. «Die Soldaten wollen sich nicht die Finger verbrennen», erklärte er, «und sie wissen, dass wir die Waren sonst einfach illegal in den Norden bringen.» 

Wenn es aber trotzdem zu einer Kontrolle kam? Die beiden IRA-Leute, das erkannten wir jetzt in unserer Dummheit, hatten uns lediglich mitgenommen zur Tarnung. Vielleicht ging ihre Rechnung auf – vielleicht auch nicht.

Unmittelbar vor der Grenze bildete sich ein Rückstau, und durch das kleine Fenster blickend, sahen wir die Rücklichter des vorderen Wagens aufleuchten. Rot leuchteten sie in der Dunkelheit, rasend pochte mein Herz. Unser Fahrer und der Beifahrer redeten mit gedämpften, gepressten Stimmen, sie waren sich offenbar nicht ganz einig über das Vorgehen, und ziemlich nervös wirkten auch sie. Obwohl sie eine solche Situation bestimmt schon etliche Male erlebt hatten, blieb ihr Ausgang doch ungewiss.

Zwei der Briten näherten sich dem Auto. Der eine sicherte mit der Waffe.

Meter um Meter rückten wir vor. Ein einzelnes, dunkles Gebäude versperrte noch die Sicht auf die Grenze, dann lag sie plötzlich, in helles Scheinwerferlicht getaucht, direkt vor uns. Links und rechts der Strasse verhinderten Stacheldrahtrollen und Eisensperren ein Durchkommen abseits der Fahrbahn. Die Soldaten mit Helm, Panzerweste und, wie erwartet, mit Maschinenpistole im Anschlag, standen neben der Fahrbahn und stoppten Fahrzeug für Fahrzeug. Nachdem sie den Wagen vor uns zur Seite hinaus gewinkt hatten, waren wir an der Reihe. Zwei der Briten näherten sich dem Auto. Der eine sicherte mit der Waffe, während der andere sich zum Wagenfenster beugte und die Papiere verlangte. Was er den Iren fragte und was dieser darauf erwiderte, konnte ich nicht verstehen. Ich sah nur, wie der Fahrer nach hinten zeigte. Zu uns. Jetzt war es soweit. Unsere Blicke streiften sich – doch einander Mut machen konnten wir nicht. Wir sassen auf unserer heissen Fracht und schwitzten und froren vor Angst. Hätten wir in diesem Augenblick in die Schweiz zurückschlüpfen dürfen, nach Hause, zurück in die Jugend, zurück ins Nest, wir hätten’s getan. Wir wären nichts lieber gewesen als wieder Schüler, denen der Lehrer sagt, was sie tun müssen.

Doch dies hier war eine andere Schule. Dies hier war das reale Leben, und wir hatten es so gewollt. Wir sahen, wie der Fahrer, auf einen Wink des Soldaten den Motor abstellte und ausstieg. Wir hörten die Männer dem Auto entlanggehen und sahen, eine Sekunde später, wie das Schloss der Kofferraumtür sich drehte. Die Tür ging auf, draussen, im Dunkeln, stand der Soldat und blickte, die Mündung der Waffe auf uns gerichtet, ins Innere. Der Ire, der neben ihm stand, zeigte auf uns und sagte, wie wenn nichts wäre, in seinem irischsten Englisch: »Switzerland, that’s what they say.«

Der Soldat, wohl im eingeübten Vertrauen, dass sein Kamerad ihn immer noch sicherte, liess das Gewehr etwas hängen und zog eine Taschenlampe hervor. Er leuchtete uns ins Gesicht, und was sah er? Zwei Grünschnäbel, die sich krampfhaft bemühten, das Spiel, das keines war, mitzumachen. Wie Komplizen wirkten wir jedenfalls nicht, mit unseren Unschuldsgesichtern und Tramperrucksäcken, und auch nicht wie Landsleute. Nur Touristen konnten wir sein, ahnungslose junge Touristen, und das waren wir bis zu diesem Moment auch gewesen: Informiert, interessiert, gymnasial gebildet – doch vollkommen ahnungslos.

Der Brite hielt es nicht einmal für notwendig, unsere Pässe zu kontrollieren. Er glaubte uns. Und er glaubte dem Iren, dass sie uns mitgenommen hatten beim Autostoppen. Aber dumm war er nicht – eher vielleicht etwas übereifrig. Anstatt sich zufrieden zu geben, liess er den Lichtkegel seiner Handlampe etwas genauer durch das Wageninnere wandern. Ich hielt den Atem an. Das todbringende Eisen, auf dem ich sass, brannte. Und in diesem Moment verharrte das Licht der Lampe. Auf den Säcken verharrte es, als ob es fündig geworden wäre. Ich rührte mich nicht, ich war starr.

Im Widerschein des Lichtes erblickte ich das Gesicht des Soldaten, und ich sah, dass er jung war, kaum älter als wir, und ich glaube, er hatte auch Angst wie wir. Doch etwas unterschied ihn von uns. Er hatte zu viel erlebt, um noch immer vertrauen zu können. Das konnte er nicht mehr. Es hätte ihn hier, in diesem Land der Gewalt, längst das Leben gekostet. In seinem Blick war Misstrauen, und der Glaube – der einzige Glaube, der ihm noch blieb – an das Schlechte im Menschen. Er sah die Säcke, auf denen wir hockten, und ich wusste, er würde im nächsten Moment ihren Inhalt begutachten wollen. Der Ire, der lauernd neben ihm stand, wich einen Schritt zurück, unbemerkt.

Schade um sie. God bless ’em.

Niemand würde uns nachtrauern hier, weder die eine noch die andere Seite. Sie haben Lehrgeld bezahlt, würde man sagen, teures Lehrgeld. Schade um sie. God bless ’em.

Doch da, in derselben Sekunde, bewies das über uns waltende Schicksal seine ganze Regiekunst. Als ob ihn der Himmel gerufen hätte, trat der zweite Soldat hinzu und liess dem Kollegen ausrichten, er solle zum anderen Auto gehen. Er werde dort gebraucht. Und wirklich: Der Brite zog ab. Er grüsste uns, und dem Iren wünschte er gute Fahrt. Die Säcke, so schien es, hatte er schon vergessen, und vielleicht war er froh, sie vergessen zu können, auch er. Keine Zwischenfälle zu haben, war immer besser. Und am Ende der Schicht noch ein Bier zu trinken und noch zu leben.

Wir aber fuhren los und über die Grenze. In der alten Klapperkiste mit der gefährlichen Fracht herrschte das grosse Aufatmen. Jetzt, wo die Spannung weg war und der Auftrag erledigt, wirkten Paddy und Joe – denn so hiessen die zwei – wie verwandelt. Sie sangen lauthals Rebellenlieder, Kampfeslieder der IRA, und hätten wir sie gekonnt, wir hätten sie mitgesungen.

Dass uns die beiden IRA-Leute als menschliche Schutzschilder hatten benützen wollen, kümmerte uns bereits nicht mehr. 

Dass uns die beiden IRA-Leute als menschliche Schutzschilder hatten benützen wollen, kümmerte uns bereits nicht mehr. Gemeinsam mit Paddy und Joe lachten wir über die Dummheit der Briten und freuten uns über das Glück, das uns hold war. Kaum angekommen in Irland, befanden wir uns in der wildromantischen Obhut der IRA und fuhren in Richtung Belfast, fuhren dahin, wo das Leben war, das echte Leben, nach dem wir uns sehnten.

Wir waren ein bisschen weniger ahnungslos jetzt. Aber immer noch jung, sehr jung. Die eine Schule war bald zu Ende. Die andere hatte gerade erst angefangen.

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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