Morgen habe ich frei
Im Supermarkt, kurz vor Ladenschluss. Die Frau an der Kasse sagt einen Satz zu ihrer Kollegin, der das ganze Dilemma der persönlichen Freiheit tangiert. Die Kolumne aus dem Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt.
Manchmal ist es nur ein einziger Satz. Dann denke ich über ihn nach und erkenne, was dieser Satz, der so dahingesagt wurde, im Grunde bedeutet. Vor ein paar Tagen im Supermarkt, kurz vor Ladenschluss, hatte es nach mir keine Kundinnen mehr. Darauf schloss die Kassiererin ihre Kasse und meinte zu ihrer Kollegin, die ein Gestell am Auffüllen war:
«Dann gehe ich jetzt. Ich wünsche dir einen schönen Abend!»
«Ich dir auch», erwiderte ihre Kollegin, «bis morgen!»
«Nicht bis morgen», widersprach die Kassiererin. Und sie deutete spielerisch eine Drehung an, als würde sie gleich zu tanzen beginnen. «Morgen habe ich frei!» meinte sie. Und sie strahlte.
Morgen habe ich frei. Der Satz begleitet mich nach draussen. Er begleitet mich bis zum Auto und ich denke für mich, während ich einsteige, dass die Kassiererin zu ihrer Kollegin nicht sagte: Morgen bin ich frei. Sie verkündete bloss: Morgen habe ich frei. Damit sagt sie im Grunde: Morgen besitze ich Freiheit. Morgen erhalte ich, vertraglich geregelt, ein Stück Freiheit. Das ich übermorgen zurückgeben muss. Bis zum nächsten freien Tag.
Mit anderen Worten: Sobald wir arbeiten, um davon leben zu können, verlieren wir unsere Freiheit. Nur an freien Tagen, nur in den Ferien besitzen wir sie. Aber etwas, das wir nur vorübergehend besitzen, ist kein Besitz. Es ist geliehen. Auch an freien Tagen, auch in den Ferien sind wir also nicht wirklich frei. Und jenachdem kann uns sogar die geliehene Freiheit jederzeit wieder genommen werden. Wenn wir einspringen müssen für eine Kollegin, die krank ist. Oder wenn ein Auftrag nicht warten kann: Tut uns leid, Sie müssen den Freitag später beziehen.
Wir beziehen Freiheit. So wie wir im Personalrestaurant unser Essen beziehen. Wir bekommen eine Portion Freiheit. Vielleicht werden wir satt davon. Vielleicht nicht.
Auch der selbständig Tätige, der scheinbar Freischaffende ist nicht frei. Er nimmt sich frei. Er macht frei. Er gönnt sich Freiheit, um sich zu erholen. Bis sie am Ende des Freitages aufgebraucht ist. Auch für den Selbständigen ist die Arbeit die Regel - und die Freiheit, die er sich «nimmt», die Ausnahme.
Eigentlich müssten wir alle hin und wieder eine Straftat begehen, für die man uns zu Gefängnis verurteilt. Dann hätten wir auch im physischen Sinn keine Freiheit mehr. Wir wären gefangen – bis zum ersehnten Tag, wo wir nach verbüsster Strafe aus dem Gefängnistor treten würden.
Eine Entlassung aus dem Gefängnis ist eine der wenigen Situationen, wo sich der Mensch seiner wahren Freiheit bewusst wird. Wo er vielleicht sogar die drei Worte sagt: Ich bin frei. Was er mit dieser Erkenntnis macht, ob er die Freiheit noch am gleichen Tag an der Garderobe der Realität wieder abgibt, entscheidet er selbst. Wir alle müssen Freiheit opfern, um unser irdisches Dasein zu sichern. Aber es könnte uns gut tun, wenn wir uns hin und wieder aus den Alltagszwängen des Lebens befreien und uns vergegenwärtigen: Eigentlich, grundsätzlich bin ich frei.
Ich kann gehen, wohin ich will. Ich kann tun, was ich will, und ich habe vor allem die Freiheit zu denken, was ich will. Gehen, wohin ich will, ist nicht immer so einfach. Tun, was ich will, ist ebenfalls eine Herausforderung. Aber denken, was ich will, das können wir alle. Das könnten wir sogar hinter Gittern. So gesehen, sind wir immer frei.
Mit diesen Gedanken kehrte ich zurück zur Kassiererin. Morgen hatte sie ihren Freitag. Übermorgen schon nicht mehr. Übermorgen sass sie wieder an ihrer Kasse. Und zu Hause, das wusste ich, hatte sie eine Familie. Ihre Freizeit war karg. Um jede freie Minute für sich musste sie kämpfen. Aber ich sah sie noch einmal vor mir. Sie nahm ihre Kasse unter den Arm, winkte ihrer Kollegin mit einem Lächeln zu und ging mit leichten, beschwingten Schritten davon. Ich sah dieses Bild noch einmal vor mir, und ich dachte: Sie ist gefangen in ihren Pflichten, gefordert von ihrer Familie, gefordert an ihrer Kasse im Supermarkt – dennoch fühlt sie sich frei. Darum geht es. Wie man sich fühlt. Und wer sich frei fühlt, ist es auch.
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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