Ordnung im Schuhgestell

Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.

© Nicolas Lindt

Wenn du deine Schuhe ins Schuhgestell stellst, dann passiert es dir vielleicht manchmal, dass du die Schuhe verkehrt hineinstellst – das heisst, dass der linke Schuh rechts steht und der rechte Schuh links, so dass die beiden Schuhspitzen nicht aufeinander zulaufen, sondern einander sozusagen den Rücken zuwenden. Was machst du dann? Lässt du die Schuhe so stehen, weil du denkst, Hauptsache, sie sind versorgt? Oder tauscht du sie aus, damit sie nicht mehr verkehrt, sondern richtig im Schuhregal stehen?

Ich jedenfalls könnte die Schuhe niemals so zurücklassen. Ich wechsle sie jedes Mal aus, weil sie erst dann, wenn der linke Schuh links und der rechte Schuh rechts steht, richtig versorgt sind. Und ich würde behaupten, dass es die meisten Menschen so handhaben. Das Bild von Schuhen, die verkehrt in einem Schuhregal stehen, ist ein sehr seltenes Bild.

Bei nebeneinande stehenden Schuhen haben wir die klare Erwartung, dass sie richtig nebeneinanderstehen müssen. Wir empfinden das Bild auseinanderstrebender Schuhe als verkehrt. Würde jemand seine Schuhe absichtlich falsch ins Schuhregal stellen, dann würden wir denken, dieser Mensch hat ein gestörtes Empfinden. Nur richtig nebeneinanderstehende Schuhe empfinden wir als natürlich. Was aber bedeutet «natürlich»? Es bedeutet: So ist es in Ordnung. Wir haben das Bedürfnis nach einem geordneten Bild, und dieses Bedürfnis begleitet uns durch den ganzen Tag.

Wenn wir den Tisch decken, möchten wir, dass das Messer gerade neben dem Teller liegt und nicht schräg, obwohl es weniger aufwändig wäre, das Messer einfach irgendwie hinzulegen. Doch wir legen es gerade neben den Teller, weil es so richtig ist, weil sonst die Ordnung nicht stimmt. Und wenn wir das saubere Messer zurück in die Besteckschublade legen, dann legen wir es nicht zu den Gabeln und nicht zu den Löffeln, sondern zu den anderen Messern. Obwohl wir es in der Eile auch bei den Gabeln versorgen könnten. Aber wir möchten, dass auch die Schublade mit dem Besteck ihre Ordnung behält.

Wenn wir abends die Zähne putzen, dann stellen wir die Zahnbürste nachher wieder ins Zahnputzglas, weil dort ihr Platz ist. Und die Zahnpastatube lassen wir in der Regel nicht offen liegen, sondern wir schrauben sie wieder zu. Nicht nur, weil die Zahnpasta in der offenen Tube austrocknen würde. Sondern auch, weil der Deckel auf die Tube gehört. Weil er dort seinen Platz hat.

Natürlich ist das Ordnungsbedürfnis nicht bei allen Menschen gleich ausgebildet. Je nach Temperament nehmen es die einen etwas genauer, die anderen etwas weniger. Aber es gibt doch so etwas wie minimale Ordnungsprinzipien, die wir alle zu befolgen versuchen. Manchmal hält uns Zeitmangel davon ab, auf die Ordnung der Dinge zu achten. Gelegentlich muss es schnell gehen. Aber das stört uns dann eigentlich. Es widerstrebt unserem Bedürfnis nach Ordnung. Wir möchten, dass der linke Schuh links und der rechte Schuh rechts steht. Wir möchten, dass sie sich wie ein Pärchen einander zuwenden.

Ein Bild, das Ordnung ausstrahlt, ist ein harmonisches Bild. Hinter dem Bedürfnis nach Ordnung steht das Bedürfnis nach Harmonie. Wir möchten umgeben sein von einer geordneten, harmonischen Welt. Wir möchten in Harmonie mit unseren Mitmenschen leben. Wir wünschen uns überhaupt ein harmonisches Leben. Doch schon als Kinder müssen wir lernen, dass das Leben nicht immer harmonisch ist, dass es unter gewissen Umständen sogar überhaupt nicht harmonisch ist.

Später wird uns vielleicht bewusst, dass in der Un-Harmonie, in der Disharmonie möglicherweise ein Sinn liegt, eine Herausforderung, die uns weiterbringt. Dennoch streben wir nicht nach der Unordnung, sondern nach der Ordnung der Dinge. Wir streben im Grunde stets nach der Rückkehr zur Harmonie, nach dem Wiedererlangen des guten Gefühls, dass das Leben so stimmt und im Lot ist. Man könnte auch sagen: Wir streben stets nach dem Himmel. Und je schwieriger, je un-harmonischer unser Leben ist, um so stärker der Wunsch nach dem Himmel, nach der Rückkehr ins Paradies.

Bei den Schuhen beginnt es. Wenn wir sie richtig nebeneinander hinstellen, den linken Schuh links, den rechten Schuh rechts, dann ist die Welt für uns in diesem Moment in Ordnung.

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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