Plötzlich flachgelegt
Ein Riss im Knie ist auch ein Riss auf der glatten Oberfläche unserer Gesellschaft. Die Samstagskolumne
Seit drei Wochen ist der Blick vom Sofa aus in meinen Garten meine Hauptbeschäftigung. An einem Sonntag während eines Musik-Workshops konnte ich plötzlich nicht mehr gehen. Nach einem Schmerz, der durch die Rückseite meines rechten Beines schoss, liess sich mein Knie nicht mehr durchstrecken. Wie sich allmählich herausstellte, hatte das Malheur eine sechsmonatige Vorlaufszeit, aber das war mir damals nicht bewusst.
Auf dem Notfall in einem renommierten Zürcher Spital wollten Pflegerinnen und Ärztinnen mich mit Schmerzmittel volldröhnen, was ich zunehmend verweigerte, da sie nichts bewirkten, ausser dass zu den Bein- nun auch Magenschmerzen dazu kamen. Man behielt mich über Nacht. Nachdem am nächsten Tag das Abtasten meines Beines und eine Ultraschalluntersuchung von Knie- und Hüftgelenken keinen Befund ergab, ich zudem immer noch keine Schmerzmittel zu mir nehmen wollte, wurde ich zunehmend als Simulantin behandelt.
«Was wollen Sie denn?», fragte eine der Ärztinnen, die um mein Bett standen, «etwa eine Knieoperation?»
Eine Magnetresonanztomographie (MRI), obwohl tags zuvor in Aussicht gestellt, erachtete man nun als unnötig. Schmerzverzerrt nahm ich zur Kenntnis, dass man mich in Bälde, obwohl ich mich nur mithilfe eines Rollstuhls zur Toilette rollen konnte, entlassen würde.
Da lag ich also, in meinem Bein pochte Schmerz, auch wenn ich es stillhielt. Ich, die es hasste, alleine zuhause zu sein, fand Genuss in dem Gedanken, nichts tun zu müssen, nicht einmal mit jemandem zu sprechen. Ich hatte keine Ziele mehr. Nicht einmal Meditation oder Atemübungen wollten gelingen. Stunde und Stunde verging. Ich war vielleicht ein-, zweimal auf allen Vieren durch die Küche gekrochen. Nichts geschah in den ersten Tagen ausser einem Besuch bei einer Physiotherapeutin, die an meinem Bein riss und mein Knie in die Streckung zwingen wollte.
Mir schossen die Tränen in die Augen. Sie fragte: «So schlimm? Wollen sie denn nie mehr gehen können?»
Ich weiss von vorherigen Erfahrungen mit Physiotherapeuten, dass sie von Patienten ausgehen, die faul sind, nichts zu ihrer Genesung beitragen und einfach massiert werden wollen. Ob das ihrer Erfahrung entspricht, oder lernen sie das so?
Erst nach zehn Tagen konnte ich meinen anthroposophischen Arzt sehen. Vorher hatte ich keinen Termin erhalten. Er gab ein MRI in Auftrag: Ein Riss im Meniskus und aufgebrochene Bakerzyste. Das ist eine mit Gelenkflüssigkeit gefüllte Zyste, die sich bei Irritationen des Kniegelenks in der Kniekehle bildet.
«Ein Meniskusriss in Ihrem Alter ist normal», sagte er und fand, dass dies nicht so viel Beschwerden machen sollte. Normalerweise. Er tippte darauf, dass eine Erschöpfung im Hintergrund aktiv sei und riet zu Leberwickeln.
Seit ein paar Tagen kann ich mich auf Krücken in die nahe Stadt schleppen. Nach vielleicht zweihundert Metern muss ich eine Pause einlegen, am besten sitzend. Unbekannte Menschen grüssen mich oder lächeln mich hilflos an. Es ist, als würden mir meine Krücken einen neuen Status verleihen, vergleichbar mit dem Erwerb eines Hundes. Ein junger Mann sucht meinen Blick und wünscht mir gute Besserung.
Man führte in Paris Schildkröten spazieren, um sich der Langsamkeit hinzugeben.
Der Riss im Knie ist auch ein Riss auf der glatten Oberfläche unserer Gesellschaft. Alle schlüpfen aneinander vorbei, tun so, als ob sie einander nicht sehen würden. Mein hinkender Gang ist von weitem sichtbar.
Statt Effizienz ist nun Kontemplation gefragt. Ich denke an den Dichter Charles Baudelaire, der im 19. Jahrhundert, zu Beginn der getakteten Fabrikarbeit, l’ennui, also die Langeweile, pflegte. Man führte in Paris Schildkröten spazieren, um sich der Langsamkeit hinzugeben.
Anstatt mit dem Fahrrad bei Rot über die Kreuzung zu brettern, wie ich es oft machte, musste ich nun an jeder Ampel brav warten, bis sie auf Grün umstellt. Stattdessen kommt etwas hervor, was mir als Kind immer vorgeworfen wurde und ich seither in die hinterste Ecke zu packen versucht hatte: Das Tagträumen. Oder vielleicht pocht nun das Sein an und für sich an meine Türe? Ohne Abwechslung, ohne Kontrolle über die Schmerzen und ohne Aufgabe, ausser der, minimalst seinen Grundbedürfnissen nachzukommen.
Mir kommt es vor, als hätte ich mit all meinen Sportlichkeit, Tanzen, Yoga, Contact Improvisation, Wandern, Fahrradfahren vom Alter weglaufen wollen. Und bin gerade deshalb mit aller Härte im Alter angekommen. Ein Meniskus war durch die dauernden Schläge, vor allem in der Contact Improvisation, wo man immer wieder unsanft Bodenkontakt hat, rissig geworden. So stelle ich mir das jedenfalls vor.
Es muss letzten Dezember angefangen haben, denn seither plagten mich einschiessende Schmerzen von Wade bis Oberschenkel. Mein Bein krümmte sich, bis ich es jeweils nach ein paar Minuten wieder strecken konnte. Ich hielt es irrtümlich für einen Krampf. Ich wies mein Körperteil mehreren Experten vor. Der eine meinte, ich soll anatomisch richtig laufen lernen, womit er sicher nicht unrecht hat. Der andere, ein Osteopath, massierte meinen Oberschenkel, sprach von Verhärtungen. Sicher auch nicht ganz falsch.
Aber auf die Ursache kam niemand. Unsere Medizin strotzt vor Angeboten. Und ob ich jetzt auf dem richtigen Weg bin, mit ein bisschen Manipulationstherapie, Leber- und Kniewickeln, weiss ich auch nicht. Ich weiss nur: Von nun an kann ich mir die Tatsache des körperlichen Verfalls nicht mehr schönreden. Die Kehrseite der Medaille: Ich darf mehr so sein, wie ich bin. Verträumt und bedächtig.
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