Wo bleibt unser zu Taten anspornendes Mitgefühl für das Leid aller Wesen, aller Kinder? Und wann erleben wir einen über sich selbst weinenden Bundeskanzler? Die Samstags-Kolumne.

Ein Polizist in Portugal wird von einer Demonstrantin abgelenkt

«Das rührt mich!» – sagte man früher so, als Tränenvergiessen für einen Mann noch politisch unkorrekt war. Aber «trocken gerührt» sein durfte man schon damals. Heute darf auch ein gestandener Mann eine Träne vergiessen, das klingt nach Fortschritt, nicht wahr? Freilich frage ich mich, inwiefern eine solch feucht-männliche Rührung übers Private hinaus etwas bringt, wenn das öffentliche Gewissen auf die gewohnte Weise versteinert bleibt.

Gerührt ist man ja nun mal, wenn man Leid mitempfindet, also ab einem gewissen Mindestpegel an Mitgefühl. Das Interessante an Mitgefühl ist aber, dass es beileibe nicht das ist, was es zu sein scheint, nämlich eine archaische Seelenreaktion, also zum Beispiel das Mitgefühl für einen von Granaten zerfetzten Soldaten. An ihm lässt sich das Klischeehafte des gängigen 0-8-15-Mitgefühls gut demonstrieren. Das konnte man im Afghanistankrieg sehr schön und nuanciert erleben.

Wurde ein Taliban zerfetzt, dann war das im Prinzip in Ordnung. Ein wenig mehr Mitgefühl galt immerhin zivil zerfetzten Afghanen und Afghaninnen. Nach oben stieg der Mitgefühlspegel in etwa in folgender Abstufung: zerfetzter Amerikaner – zerfetzter Süd- oder Osteuropäer – zerfetzter Mittel- oder Nordeuropäer – zerfetzter Deutscher. Ihm galt selbstverständlich eine Woge des Mitgefühls, auch wenn ihn keiner kannte. «Deutsch-Sein» genügte.

Mitgefühl für Menschen, quod erat demonstrandum, ist also eine ebenso musterabhängige und manipulierbare Empfindung wie etwa die islamische Abscheu vor Schweinefleisch oder das hinduistische Mitgefühl für leidende Kühe. Worauf ich in diesem zugegebenermassen grossen Bogen hinauswill, ist die Frage, weshalb wir so gut wie kein Mitgefühl für die täglich ca. 20.000 verhungernden Kinder weltweit aufbringen, jedenfalls kein übers Lippenbekenntnis hinausreichendes, zu Taten anspornendes Mitgefühl. Und schon gar keines für die Millionen von Lebewesen, die für den westlich-imperialen Lebensstil täglich dran glauben müssen?

Die Antwort liegt auf der Hand: Sie alle gehen uns letzten Endes am A… vorbei. Bei den Kindern mag man das nicht gerne zugeben, was aber an der Tatsache nichts ändert, dass uns das Grillfleisch am Sonntag genauso gut schmeckt, egal, wie viele Kinder vergeblich an den leeren Brüsten ihrer Mütter saugen. Und wenn in der Tageszeitung oder Illustrierten neben den Todesmeldungen aus der Ukraine (wo dem Tod die Nationalität seiner Opfer bekanntermassen egal ist) nur Millimeter entfernt für «Deutsche frische Jungbullen-Rouladen» geworben wird, dann fällt uns der Zynismus der Situation meistens gar nicht auf. Ich vermute also, unser Mangel an passendem Mitgefühl ist der tiefste Grund dafür, dass in Sachen Mitwelt-Zerstörung so gut wie nichts vorangeht.

Wie es uns aber gelingen könnte, ganz allgemein eine zum Handeln anspornende Abscheu vor jeglichem Leid zu entwickeln, das weiss ich auch nicht. Vielleicht könnte uns das Entsetzen vor dem eigenen Ungerührt-Sein bewegen? Wie auch immer: Eine kühne Vision will mir nicht aus dem Kopf: ein in der Bundespressekonferenz weinender Bundeskanzler. Das wäre schon kühn genug, aber es ginge noch einen Tick kühner: ein über sich selbst weinender Bundeskanzler.

 

Über

Bobby Langer

Submitted by cld on Mi, 04/05/2023 - 07:30
Bobby Langer

*1953, gehört seit 1976 zur Umweltbewegung und versteht sich selbst als «trans» im Sinn von transnational, transreligiös, transpolitisch, transemotional und transrational. Den Begriff «Umwelt» hält er für ein Relikt des mentalen Mittelalters und hofft auf eine kopernikanische Wende des westlichen Geistes: die Erkenntnis nämlich, dass sich die Welt nicht um den Menschen dreht, sondern der Mensch in ihr und mit ihr ist wie alle anderen Tiere. Er bevorzugt deshalb den Begriff «Mitwelt».