«Sie brauchen unsere Fürsorge nicht»
Ein Inselvolk will seine Ruhe haben. Am Beispiel des Umgangs mit den Sentinelesen zeigt sich die Grösse des Menschen. Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben»
Coverbild: Die indische Anthropologin Madhumala Chattopadhyay 1991 auf Sentinel Island (Bild Netzfund)
Coverbild: Die indische Anthropologin Madhumala Chattopadhyay 1991 auf Sentinel Island (Bild Netzfund)

Wer von Thailand zurück nach Europa fliegt - und das tun sehr viele Menschen –, wird bei guter Sicht kurz nach dem Abflug unten im Meer eine Inselgruppe ausmachen können, die sich die Andamanen nennt und seit dem Ende der britischen Kolonialzeit zu Indien gehört. Die Andamanen bestehen aus einigen grösseren und über 200 kleineren Inseln, von denen viele unbewohnt sind. Die Bewohner der grösseren Inseln – mehrere hunderttausend Menschen - leben heute unter anderem von den Touristen, die sich in wachsender Zahl für die paradiesische Destination mit den traumhaften Stränden begeistern. Auf den Andamanen findet man eine Natur, die vom Tsunami des Fremdenverkehrs noch unberührt ist.

Insel

Unmittelbar nach dem Überfliegen der grössten Insel mit der Hauptstadt Port Blair lohnt es sich, genau hinzuschauen. Denn auf der Höhe Port Blairs, leicht westlich davon, lässt sich eine einzelne Insel entdecken, die, von Korallenriffs umgeben, ganz von Regenwald bedeckt ist. Keine Strasse, kein Haus, keine Zeichen menschlichen Lebens sind zu erkennen, und auch ein späterer Blick auf Google Maps bringt uns zum Schluss, dass das wenige Kilometer breite und lange Eiland menschenleer ist.

Doch auf North Sentinel Island leben Menschen. Sie gehören zu den Ureinwohnern der Andamanen und werden als «Sentinelesen» bezeichnet, weil niemand weiss, zu welchem anderen Stamm oder Volk sie gehören könnten. Warum aber weiss es niemand? Weil niemand sie kennt.

Die vielleicht etwa 100 Bewohner von Sentinel Island zählen zu den wenigen Menschen auf unserer Welt, von denen man lediglich Kenntnis hat, dass es sie gibt. Einige wenige Bilder existieren von ihnen, doch die meisten Fotos sind aus Distanz gemacht worden. Woran die Sentinelesen glauben, welche Sprache sie sprechen und wie sie leben, ist unbekannt.

Denn sie wollen mit uns nichts zu tun haben.

Vor über 50 Jahren bereits schickte Indien erstmals eine Expedition auf die Insel. Doch die Sentinelesen beschossen die Besucher mit Pfeilen, worauf sich die Forscher zurückzogen. Einige Jahre später landete eine Gruppe von Filmemachern und Anthropologen auf Sentinel Island. Mit Kokosnüssen, Werkzeugen aus Metall, einem lebenden Schwein und anderen Gastgeschenken versuchten sie sich den Bewohnern zu nähern. Doch die Sentinelesen wollten auch diesmal nichts von den Fremden wissen. Einer der Filmemacher wurde von einem Pfeil im Bein getroffen. Darauf ergriff die Gruppe die Flucht.

Nach Jahren ohne erneute Kontaktversuche unternahm ein Anthropologenteam einen neuen Anlauf. Doch wieder wurden sie feindlich empfangen. Darauf übernahm eine Frau das Szepter. Unter der Leitung der Anthropologin Madhumala Chattopadhyay steuerte im Januar 1991 eine weitere kleine Forschergruppe die Insel an. Die junge Frau hatte sich diese Gelegenheit seit ihrer Kindheit herbeigewünscht. Nun war es soweit.

Als sich das Boot einem Strand näherte, hinter dem Rauch in die Luft stieg, tauchte eine Gruppe männlicher Sentinelesen auf. Mit Pfeil und Bogen bewaffnet, erwarteten sie die Fremden. Auch diesmal, wie bei jeder Begegnung davor, waren sie praktisch nackt. Die Anthropologin liess Kokosnüsse an den Strand treiben. Darauf wateten die Inselbewohner ins Wasser und holten sich die Geschenke. Zwei Stunden ging das so weiter. Die Forscher legten Früchte, die auf der Insel nicht wachsen, ins Wasser, und die Sentinelesen behändigten sie. Frauen mit ihren Kindern beobachteten das Geschehen aus dem Hintergrund. Als ein junger Mann, der bei den Frauen stand, seinen Bogen spannte, winkte die Antropoologin ihn mutig zu sich, er solle sich auch eine Kokosnuss holen. Eine der Frauen gab ihm darauf einen Schubs, worauf er seinen Pfeilbogen niederlegte und ebenfalls näherkam.

Einige Sentinelesen getrauten sich dann, das Boot zu berühren, und auch die Forscher wagten einen weiteren Schritt. Sie kamen an Land. Doch als die Stammesangehörigen keinerlei Anstalten machten, die Fremden willkommen zu heissen, beendete die Anthropologin das kurze Gastspiel.

Begegnung

Dennoch ermutigt durch die erstmalige Offenheit der Inselbewohner, startete Madhumala mit einem etwas grösseren Team eine zweite Fahrt nach Sentinel Island. Diesmal hatten die Männer am Strand keine Waffen bei sich. Sie hofften, so schien es, dass sie wieder Geschenke bekommen würden. Doch diesmal wollten sie nicht bloss einzelne Kokosnüsse. Sie kletterten in das Expeditionsboot und nahmen sich ganze Säcke. Auch das Gewehr eines Polizisten, der die Gruppe begleitete, versuchten sie zu ergreifen.

Die Stimmung wurde zusehends hektischer. Und dann beging ein Mitglied der Expedition einen Fehler. Er griff etwas allzu forsch nach einem Schmuckstück aus Blättern, das ein Sentinelese trug. Der Insulaner reagierte verärgert. Er zückte unerwartet ein Messer und bedrohte den Forscher. Woher er die Waffe besass, war den Anthropologen nicht klar. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Madhumala entschied sich, den Besuch abzubrechen.

*

Seither sind mehr als drei Jahrzehnte vergangen. Kein Forscherteam hat sich der Insel jemals wieder genähert. Auch die indische Anthropologin startete keinen neuen Annäherungsversuch. Nach ihrer Rückkehr kam sie zum Schluss, die Insulaner in Ruhe zu lassen. «Das ist das Beste», sagt sie, «was wir für sie tun können. Sie brauchen unsere Fürsorge nicht.»

Auch die indische Regierung respektiert die selbstgewählte Isolation der Sentinelesen. Sie verzichtet darauf, diese Menschen zu statistisch erfassten und registrierten indischen Bürgern machen zu wollen. Sie will sie bewahren vor den Verlockungen der modernen Welt, vor Krankheit und Seuche. Die Immunität ist das Überlebensrezept der Sentinelesen. Deshalb wachen die indischen Behörden darüber, dass der Insel niemand zu nahe kommt.

Ein junger Amerikaner versuchte es trotzdem. John Allen Chau, ein strenggläubiger Christ, der sich als Missionar verstand, ertrug den Gedanken nicht, dass die Sentinelesen ihr abgeschiedenes Leben zu leben vermochten, ohne von Jesus Christus zu wissen. In sein Tagebuch schrieb er: «Herr, ist diese Insel die letzte Festung Satans, wo niemand deinen Namen gehört hat oder auch nur die Chance erhielt, ihn zu hören?»

Aus «reiner Liebe» zu diesem Volk, so empfand er dies selbst, entschloss er sich deshalb, auf das verbotene Eiland zu fahren und den verlorenen Seelen das Evangelium zu bringen. Er wusste um die Gefährlichkeit der Mission, doch sein Bekehrungseifer überstrahlte seinen Realitätssinn. Es gelang ihm, einige Fischer für die Überfahrt zu bestechen. Für die letzte Strecke benutzte er einen Kajak. Er versuchte an Land zu gelangen, doch die Sentinelesen verjagten ihn. Er kehrte zurück zum Fischerboot und versuchte es tags darauf noch einmal. Er rief den Inselbewohnern zu: «Mein Name ist John. Ich liebe euch, und Jesus liebt euch. Jesus Christus hat mich ermächtigt, zu euch zu kommen.» Doch wieder beschossen ihn die Inselbewohner. Jesus Christus hatte auch sie dazu ermächtigt.

Beim dritten Versuch traf ihn der Pfeil eines Sentinelesen tödlich. Aus der Ferne konnten die Fischer beobachten, wie John Allen Chau von den Insulanern hinter dem Strand begraben wurde. So schäbig endete das Leben des jungen Eiferers. Unser Mitgefühl begleitet ihn nicht.

*

Ich hatte von den Sentinelesen gelesen, schon früher einmal. Die Geschichte der Insel und ihrer Bewohner hatte mich fasziniert. Sie hatte meine natürliche menschliche Neugier geschürt. Und als ich deshalb beim Rückflug von Thailand auf der Karte an Bord die Inselgruppe der Andamanen sah, als ich hinunterblickte in die Andamanische See und tatsächlich glaubte, Sentinel Island entdeckt zu haben, war mir alles wieder präsent. Ich sah hinab auf den kleinen Fleck inmitten des Ozeans und ich dachte: Wie gerne wüsste ich mehr über ein Volk, dessen Leben mir Einblick gewährt in die Ursprünglichkeit des menschlichen Daseins!

Aber gleichzeitig war mir klar, dass in der Neugier stets auch die Gier steckt, jedes Geheimnis zu lüften und jede Intimität zu durchleuchten.

Madhumala, der indischen Anthropologin, und auch den Behörden in Indien – auch ihnen ist der Reiz der Neugier vertraut. Auch sie würden gerne alles erfahren über die Menschen auf Sentinel Island. Doch sie besassen die Grösse, sich dafür zu entscheiden, die Sentinelesen in Frieden zu lassen. Ihre Grösse, erkannte ich, während die Insel meinen Blicken entschwand - ihre Grösse ist die Grösse des Menschen.

Der Mensch erobert, zerstört und dringt in jede Intimsphäre ein, er respektiert keine Grenzen und kein Mysterium. Aber manchmal kann er sich auch zurückhalten. Das ist - mit Blick auf die Weltpolitik - seine Chance.

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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