Sie werden uns die Fünfte Kolonne nennen
Ein Interview in der Mainstream-Presse bringt einen Begriff zurück, der aus «Putin-Verstehern» Landesverräter macht. Die Kolumne aus dem Podcast «Fünf Minuten».
Siebzig Jahre lang, seit der Oktoberrevolution, sprach niemand von Russland. Alle sprachen nur von der Sowjetunion. Sogar das russische Eishockeyteam war das «sowjetische» Eishockeyteam. Weil es nicht nur russische Spieler umfasste, sondern auch solche aus den anderen Sowjetrepubliken. Kein anderes Team verfügte über ein so grosses Reservoir an guten Eishockeyspielern. Deshalb waren die Russen während Jahrzehnten die Besten. Auch mich beeindruckten sie. Ihre Namen bleiben mir unvergesslich. Namen wie Konowalenko und Ragulin, Alexandrow und Maltzev, Firsow, Petrow und Davidow, Boris und Jewgeni Majorow: Es waren starke und aussergewöhnliche Namen, und genau so spielten sie auch.
Doch dann wurde ich älter, mein Interesse am Eishockey kühlte ab, und eines Tages fielen sowjetische Truppen in die Tschechoslowakei ein. Sie machten die Hoffnung des demokratischen «Prager Frühlings» gewaltsam zunichte, und ich begann zu begreifen, dass die Sowjetunion eine kommunistische Diktatur war. Ich ging auf Distanz, und als ich, wieder einige Jahre später, selber ein Linker wurde, differenzierte ich messerscharf zwischen dem degenerierten sowjetischen Sozialismus und dem wahren Sozialismus, den ich in China zu finden glaubte. Während ich die chinesische Kulturrevolution, die in Wirklichkeit eine brutale Säuberungswelle war, romantisch verklärte, verurteilte ich die Sowjetunion als das Regime einer neuen herrschenden Klasse von Parteibürokraten. Die «sozialimperialistische» UdSSR fand ich nicht weniger schlimm als den kapitalistischen Westen.
Als ich mich dann von der Linken abwandte, war ich kein Sozialismus-Versteher mehr. Den Sozialismus «mit menschlichem Gesicht», das hatte ich eingesehen, gab es nirgends. Umso mehr begrüsste ich, wiederum einige Jahre später, die «Perestroika» in der Sowjetunion. Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Riesenreiches fiel auch der Eiserne Vorhang, die Ostblockstaaten erhielten alle wieder ihr individuelles Gesicht, sie waren wieder Nationen, gehörten wieder sich selbst, und auch Russland war auferstanden.
Zum ersten Mal seit meiner Kindheit hatte ich wieder ungetrübte gute Gefühle zu diesem Land. Das russische Wesen war mir immer noch fremd, doch es hatte nichts mehr Bedrohliches an sich, und Russland war nicht mehr unerreichbar und unzugänglich. Auf dem Moskauer Roten Platz tummelten sich bald ebenso viele Westtouristen wie russische Bürger, Leningrad wurde wieder St. Petersburg, und die immer zahlreicheren russischen Gäste in den Touristen-Hotspots des Westens wurden bereits mit kyrillischer Schrift willkommen geheissen. Wenn ich an Russland dachte, dachte ich nicht mehr an Tyrannei. Ich dachte an Dostojewski und Tolstoi und an Europa. Russland gehörte wieder zu uns.
Natürlich wurde mir bald schon klar, dass auch ein demokratisches, für den Westen offenes, kapitalistisches Russland autokratische Züge trug, dass Kritik an der Regierung immer noch unerwünscht war und es immer noch Straflager gab. Aber nach aussen empfand ich Russland als prinzipiell friedliches Land, das keine Expansionspläne hegte und nicht wie die USA permanent irgendwo in der Welt militärisch intervenierte.
Doch dann, für mich völlig unerwartet: Der russische Angriff auf die Ukraine. Unerwartet ganz einfach deshalb, weil mich der Konflikt zwischen den beiden Staaten in den Jahren davor nicht wirklich beschäftigt hatte. Ich wusste nur, dass die russische Bevölkerungsmehrheit im ukrainischen Osten diskriminiert wurde. Also gab es offenbar einen Grund für den russischen Einmarsch. Aber welche persönliche Haltung ich dazu einnehmen wollte, war mir im ersten Moment noch nicht klar. Und auch die Lektüre der Mainstream-Presse hatte mir keine Klarheit verschafft.
Doch Corona hatte 2020 alles verändert. Alternative Medien schossen fontänengleich aus dem Boden und verbreiteten sich. Sie kreisten zunächst um das brennende Thema der «Pandemie», doch spätestens mit dem Ukraine-Konflikt wurde das ganze Spektrum der Aktualität aus alternativer Sicht beleuchtet. Und so fand ich, was ich in den Mainstream-Medien niemals gefunden hätte: eine grundsätzlich andere Sicht der Dinge. Auch eine andere Sicht des Ukraine-Konflikts. Ich erkannte, wie sehr das Kriegsgeschehen im ukrainischen Osten eine Vorgeschichte besass und wie sehr diese Vorgeschichte vom Anspruch der USA dominiert war, die Nummer 1 auf der Welt zu sein und zu bleiben.
Je mehr ich darüber las, umso schlimmer fand ich die Politik der Schweizer Regierung. Sie verriet das Prinzip der Neutralität, und sie katapultierte die Schweiz in die Front des Westens gegen Russland und gegen das Ziel einer multipolaren Welt. Doch dafür muss ich dem Bundesrat heute dankbar sein: Denn ich begann dadurch zu verstehen, dass eine Welt, in der etwas mehr Friede und Gerechtigkeit herrscht, nur erreicht werden kann, wenn die Gewichte zu gleichen Teilen verteilt sind, wenn es keine Vorherrschaft der einen oder anderen Grossmacht gibt, wenn alle sich respektieren. Und Respektieren bedeutet auch, den Vorgarten einer Weltmacht nicht zu behelligen.
Deshalb stehen mir Russland oder auch China inzwischen näher als die USA. Denn weder Russland noch China stellen in Mexiko Langstreckenraketen auf, die gegen die Vereinigten Staaten gerichtet sind. Aber die USA und ihre Verbündeten in der NATO benützen, wie man weiss, die Ukraine, um die westliche Hegemonie auszudehnen bis an die russischen Grenzen. Das ist nicht richtig. Ich habe deshalb Verständnis für die russische Position. Und ich habe neuerdings noch viel mehr Verständnis, wenn ich lese, dass sich Russland mit der Ukraine bereits im April 2022 in Istanbul auf ein Friedensabkommen geeinigt hätte. Doch die USA vereitelten diesen Friedensschluss, und die Regierung in Kiew wurde von westlicher Seite dazu ermutigt, weiterzukämpfen. Wieviele Ukrainer haben seither sterben müssen in einem Krieg, der seit zwei Jahren beendet sein könnte?
Der wahre Kriegstreiber ist für mich deshalb nicht Putin, sondern der Westen unter der Führung der USA. Und sehr viele Staaten auf dieser Welt, die sich nicht – oder nicht mehr – zum westlichen Lager zählen, sehen das auch so. Wie diese Staaten und wie viele Menschen in unseren Breitengraden befürworte ich einen sofortigen Waffenstillstand, Friedensverhandlungen, ein Ende der Sanktionen gegen den russischen Staat und ein Ende der Diskriminierung russischer Bürgerinnen und Bürger im Ausland.
Mit dieser Haltung jedoch, die ich seit Beginn dieses Krieges vertrete, gelte ich für den Mainstream als «Putin-Versteher». Alle in unserem Land, die so denken, sind Putin-Versteher. Die Formulierung ist vergleichsweise harmlos. Aber das könnte sich ändern. Denn der Konflikt verschärft sich. Der Westen schürt die Angst vor den Russen: «Sie wollen ganz Europa erobern.» «Ihre Spione sind überall.» «Wir müssen den Ukrainern Raketen liefern.» «Raketen, die russisches Territorium treffen.» «Wir müssen vielleicht sogar Bodentruppen entsenden.»
So redet der Westen. So schürt er den Hass auf die Russen. Von der Notwendigkeit, Frieden zu schliessen, ist keine Rede. Und deshalb beginnt sich auch der Ton gegen Menschen wie uns zu verschärfen. Aufgetaucht ist ein Begriff, der mir vorkommt wie eine Warnung. Ich las ihn das erste Mal vor ein paar Wochen im Tages-Anzeiger. Eine Redaktorin interviewte einen Schweizer Historiker und Geheimdienstexperten über russische Spionageaktivitäten. Und sie fragte ihn nach der «Fünften Kolonne».
Was ist die «Fünfte Kolonne»? Der Ausdruck stammt aus dem Spanischen Bürgerkrieg, als die nationalistischen Truppen unter General Franco in Richtung Madrid marschierten. Einer seiner untergebenen Offiziere soll dabei wörtlich erklärt haben, dass er mit vier Kolonnen auf die republikanisch beherrschte Stadt vorrücke – während eine fünfte Kolonne bereits in der Stadt selbst aktiv sei. Damit meinte er Sympathisanten der Nationalisten, die mit Sabotage, Spionage und Propaganda den Boden für die Eroberung von Madrid vorbereiteten.
Seit damals, so erklärte der Geheimdienstexperte der Redaktorin, werde der Ausdruck verwendet für «Personen und Gruppen, die in einem Land verdeckt für die Interessen einer fremden Macht arbeiten – quasi aus der Mitte der Gesellschaft heraus». Jahrzehnte später, im Kalten Krieg tauchte der Begriff wieder auf. Sozialisten und Kommunisten, auch in der Schweiz, wurden als «Fünfte Kolonne» verleumdet, weil sie «propagandistisch» der Sowjetunion dienten. Der Begriff war als Drohung gemeint. Wer zur Fünften Kolonne gerechnet wurde, musste öffentliche Anprangerung und Verfolgung gewärtigen.
«Wer ist denn heute Teil der 5. Kolonne?» möchte die Redaktorin wissen.
«In der Forschung», doziert der Experte, «werden verschiedene Kategorien von russischen Agenten in Europa identifiziert. Eine Kategorie sind die sogenannten Influencer: Damit gemeint sind Politiker und Publizisten aus dem ganz rechten oder linken politischen Spektrum, die über ihre Plattformen russische Propaganda-Narrative in die europäischen Gesellschaften tragen.»
Dieser Satz liess mich aufhorchen. Wenn ich Verständnis für die russische Sicht der Dinge zeige, trage ich dann auch «russische Propaganda-Narrative» in unser Land? Bin ich dann auch ein Influencer? Bisher erwuchsen mir daraus keine existentiellen Nachteile, und ich bin nur ein kleiner Fisch. Aber grössere Fische, grössere Maulwürfe, die unser Land als Putin-Versteher mit «russischer Propaganda» zu untergraben versuchen, könnten schon eher Schwierigkeiten bekommen.
Denn, wie der Geheimdienstexperte im Interview weiter ausführt: «In gewissen Fällen wird die Schwelle zur Spionage überschritten, indem solche Influencer auch Informationen beschaffen und an russische Geheimdienste weitergeben.»
Darauf fragt die eifrige Redaktorin: «Wären Sie überrascht, wenn auch Schweizer auf einer Kreml-Gehaltsliste stehen würden – etwa aus dem SVP-Lager?»
«Manche Personen im russophilen Lager der SVP passen durchaus in das Profil von russischen Anwerbern», erwidert darauf der Experte. Er relativiert seine Aussage dann ein wenig, um jedoch sogleich nachzudoppeln: «Was mir auffällt: Wenn man sich die Aussagen der Agenten anschaut, die jüngst in Deutschland für Russland und China spionierten, dringt fast immer durch, dass sie sich vom deutschen Staat abgewandt haben.» Ein Beispiel sei der prominente Fall des Carsten Linke, bis zu seiner Verhaftung im letzten Jahr ein hoher Beamter des deutschen Bundesnachrichtendienstes, der – so die Anklage – für Geld Staatsgeheimnisse an Russland weitergab und nach seinen eigenen Worten «mit diesem Land, dieser Republik abgeschlossen» habe.
«Eine solche totale Entfremdung vom eigenen Staat», schliesst der Experte daraus, «ist ein Nährboden für die chinesischen und russischen Dienste, die versuchen, genau solche Leute zu rekrutieren».
Carsten Linke wurde noch nicht verurteilt, und er bestreitet den Vorwurf der Spionage. Doch für die Anklage und den Mainstream steht seine Schuld allein deshalb schon fest, weil er sich vom deutschen Staat «abgewandt» hat. Zudem wurde er nachweislich mit einem «Funktionär der deutschen AfD» gesehen, und während Corona habe er «irrationale Ängste» entwickelt.
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Corona-Leugner, Putin-Versteher und Staatsgegner – die drei Komponenten, die einen unbescholtenen Bürger zum möglichen Landesverräter machen, vereinigen sich in vielen von uns. Auch ich habe mich spätestens seit Corona innerlich vom schweizerischen Staat «abgewandt». Weil er uns an die Internationale der Technokraten ausliefern will. Sollte der Ukraine-Konflikt eskalieren, wird auch der Druck auf die Putin-Versteher zunehmen. Die Feindseligkeit des Mainstreams gegenüber Andersdenkenden wird erneut aggressiver werden. Man wird uns die Fünfte Kolonne nennen, obwohl die wahre fünfte Kolonne in den Medien, in den Behörden und in der Regierung sitzt. Sie sind die echten Landesverräter.
Warum aber bleibe ich hoffnungsvoll? Weil die «westlichen Werte», die keine mehr sind, immer mehr ihre Grenzen zu spüren bekommen. Die Gegenkräfte in der Welt wachsen. Zu ihnen zähle ich mich.
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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Der Fünf Minuten-Podcast «Mitten im Leben» von Nicolas Lindt ist als App erhältlich und auch zu finden auf Spotify, iTunes und Audible. Sie enthält über 400 Beiträge – und von Montag bis Freitag kommt täglich eine neue Folge hinzu.
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