Spätsommer und kreatives Chaos
Wir können zu Sternen werden, die mit ihrem Licht das anziehen, was sie realisiert sehen möchten. Die Samstagskolumne.
Die letzten Zikaden des Sommers bringen die Luft zum Vibrieren und erinnern daran, dass Leben Schwingung ist, Information, niemals endende Bewegung. Wenn die letzte Stimme verklungen ist, werden wir bis zum nächsten Sommer warten, bis die Insekten erneut beginnen zu singen. Siebzehn Jahre verbringen manche Arten in der Erde, bis sie aus ihrem unteririschen Versteck hervorkommen. Siebzehn Jahre, die sie vor Fressfeinden schützen, von denen die meisten in Zwei-, Vier- oder Sechs-Jahres-Rhythmen leben. Wie weit wir auch davon entfernt sind, die Geheimnisse der Natur zu durchschauen – wir alle wissen, dass auf den Sommer ein Winter und auf den Winter ein neuer Frühling folgt.
Wir sind eingebettet in eine Art perpetuum mobile, das, einmal in Schwung gebracht, sich ewig weiterbewegt. Bewegung ist die einzige Gewissheit, die wir haben. Alles verändert sich. Nichts bleibt, wie es ist. Alles geht vorbei, bevor etwas Neues beginnt. Doch anders als die Zikaden haben wir Schwierigkeiten damit, uns in den Rhythmus dieses unaufhörlichen Werdens und Vergehens zu fügen, in dem sich das Leben immer wieder regenerieren kann. Wir wollen andauernden Fortschritt: etwas, was es in der Natur nicht gibt. In den vergangenen Jahrtausenden haben wir vor allem gelernt, nach Dingen zu greifen, zu erobern, zu plündern und nicht mehr aus der Hand zu geben. Wie es geht, loszulassen und uns hinzugeben, das wissen wir nicht.
So stehen wir da mit all dem Ballast, den wir uns angeeignet haben. Unsere Hände sind nicht frei, um uns in Balance zu halten in den Prozessen der Natur, die seit Urzeiten wirken und sich nicht darum scheren, ob wir sie akzeptieren oder nicht. Wir klammern uns an das, was wir für unseren Besitz halten, und wollen nicht wahrhaben, dass uns in Wirklichkeit gar nichts gehört. Ewig wollen manche leben, oder doch zumindest sehr lange, und wissen dabei nicht einmal, was sie mit ihrem Leben anfangen können, ausser, sich davon abzulenken.
Ausser Kontrolle
Ich bin zurück von meinem morgendlichen Bad im Fluss, begleitet vom Gesang der Zikaden. Durch die hohen, zerklüfteten Felsen der Schlucht an der Teufelsbrücke bin ich geschwommen, habe Fische springen sehen, bis die Strömung mich zum Umkehren zwang. Ich habe mich auf den Rücken gelegt und treiben lassen. Wasser trägt den, der sich ihm anvertraut. Luft strömte durch meine Lungen, Sonne wärmte mich, Erde erwartete mich am Ufer, ein Kaffee und ein Croissant.
Was mich sonst erwartet, davon habe ich keine Ahnung. Auch in einem kleinen südfranzösischen Dorf steht die Zeit nicht still. Auch in der vibrierenden Luft des Südens gibt es Ungewissheit und Unsicherheit. Auch hier sterben die Bäume, vertrocknen die Böden und sind die Pflanzen vergiftet. Aus Paris kommen Bilder von geköpften Marie-Antoinettes, von strömendem Blut und schrillen Spektakeln, die Ekel in mir auslösen.
Die Verwirrung ist überall. Chaos ist zu spüren. Viele sind orientierungslos, während sich manche noch an ihren scheinbaren Sicherheiten festhalten. Dinge kommen zum Vorschein, die lange im Verborgenen schwärten. Lange überwunden Geglaubtes macht sich erneut bemerkbar. Vieles kommt hoch, kommt aus den Tiefen wie die Zikaden und versetzt die Welt in eine Schwingung, die alles umgestaltet.
Zwischen Chaos und Kosmos
«Negative capacity» nannte der britische Dichter John Keats, ein Zeitgenosse Johann Wolfgang von Goethes, die Fähigkeit, Nichtwissen und Unsicherheit auszuhalten und Chaos zuzulassen. Chaos und Kosmos: die zwei Seiten der Evolution. Sie zu akzeptieren ist, als mache man es sich in einem Biwak in der Eiger Nordwand gemütlich. Immer wieder muss ich in das Wasser steigen, um mir das Gefühl des Getragenseins zu holen, die Verbindung mit den Elementen, die gleichzeitig in meinem Körper wirken und ausserhalb von ihm.
Hieraus schöpfe ich das Vertrauen, durch diese Zeit zu gehen. Wir wissen nicht, was das Resultat des grossen Wandels sein wird, des Great Reset. Werden wir in eine totalüberwachte Welt treten, in der nichts mehr ohne Erlaubnis wachsen kann, oder wird es uns gelingen, uns kraft unseres erwachenden Bewusstseins zu befreien und in die uns angeborene Schöpferkraft zurückfinden?
Niemand kann sicher sein, wie die Geschichte weitergeht. Denn sie wird in jedem Augenblick neu geschrieben. Das Neue kann nur entstehen, wenn nichts sicher ist. Es ist nicht vorhersehbar, nicht kalkulierbar, nicht kontrollierbar. Das sind nur gentechnisch veränderte Organismen, die man patentieren und programmieren kann. Mit ihnen endet die Evolution. Kein neues Leben kann sich daraus entwickeln. Natürliches Leben hingegen ist offen für Überraschungen.
Doch auch wenn wir nicht wissen, was wird, sind wir nicht zum Nichtstun verdammt. Wir können unsere Absichten so rein wie möglich halten und für den Boden Sorge tragen, auf dem das Neue wachsen soll.
Womit gehen wir in Resonanz? Wie schwingen wir? Hierfür brauchen wir uns an nichts festzuhalten. Wir haben die Hände frei, können ins Wasser des späten Sommers steigen, Arme und Beine ausbreiten wie der vitruvianische Mensch in der Zeichnung Leonardo da Vincis – und zu Sternen werden, die mit ihrem Licht das anziehen, was sie realisiert sehen möchten.
von:
Über
Kerstin Chavent
Kerstin Chavent lebt in Südfrankreich. Sie schreibt Artikel, Essays und autobiographische Erzählungen. Auf Deutsch erschienen sind bisher unter anderem Die Enthüllung, In guter Gesellschaft, Die Waffen niederlegen, Das Licht fließt dahin, wo es dunkel ist, Krankheit heilt und Was wachsen will muss Schalen abwerfen. Ihre Schwerpunkte sind der Umgang mit Krisensituationen und Krankheit und die Sensibilisierung für das schöpferische Potential im Menschen. Ihr Blog: „Bewusst: Sein im Wandel“.
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