Stalinistischer Schauprozess

Ein Rückblick auf das Verfahren gegen Julian Assage am Westminster Magistrates' Court in London – aus Sicht zweier australischer Journalisten.

©Free Julian Assange

Wir erinnern uns: Nachdem der Wikileaks-Gründer Julian Assange im Jahr 2010 während einer Vortragsreise in Schweden in eine – wie sich später herausstellte – «Honigfalle» tappte, wird er von den Ermittlungsbehörden verfolgt. Schweden hatte nach einer Anzeige von zwei Frauen eiligst einen Strafbefehl erlassen und liess ihn mit internationalem Haftbefehl zur Fahndung ausschreiben.

Kurz darauf – Assange war mittlerweile in Grossbritannien – wird er vor ein Londoner Gericht gestellt, das über seine Auslieferung befinden soll. Im Frühjahr 2012 fällt schliesslich das Urteil. Julian Assage soll den Schwedischen Strafverfolgungsbehörden überstellt werden. Er flieht in die Londoner Botschaft Ecuadors. Das Land gewährt ihm politisches Asyl, er erhält sogar die Staatsbürgerschaft und einen Pass. Das ändert sich 2019 nach einem vorausgegangenen Regierungswechsel in Ecuador. Auf Rafael Correa war Lenín Moreno gefolgt. Und der entzog im April 2019 dem langjährigen Botschaftsbewohner sowohl das Asylrecht als auch die Staatsbürgerschaft. 

«Ich fand eine dünne Gestalt, die in einer Ecke sass – ein schmerzlicher Anblick. Assange hatte innerhalb weniger Monate mehr als zehn Kilo abgenommen.»

So waren nach fast sieben Jahren die «juristischen Voraussetzungen» geschaffen, dass am 11. April 2019 ein bis an die Zähne bewaffnetes Kommando der Metropolitan Police in die Botschaft stürmen konnte, um Assange gewaltsam von dort in britische Haft zu überführen. Man brachte ihn in «Her Majesty's Prison Belmarsh», das von Kritikern als britisches Guantanamo bezeichnet wird.

Bereits eine Stunde nach der Verhaftung verlangten die USA die Überstellung des Häftlings. Grundlage dafür war ein zwei Jahre lang geheim gehaltenes Auslieferungsersuchen. Am 12. Juni 2019 wurde der Antrag vom britischen Innenminister formal anerkannt.

Seit Jahren hatten die USA nach Wegen gesucht, des Wikileaks-Gründers habhaft zu werden. Im Wesentlichen auf der Grundlage des «Espionage Act» von 1917 soll er vor ein amerikanisches Gericht gestellt werden, dort droht ihm eine Haftstrafe von bis zu 175 Jahren.

Kernpunkt der Anklage ist die Veröffentlichung des Videos «Collateral murder». Es zeigt – aus Sicht der «Bordkameras» – gezielte Luftangriffe auf Zivilisten in Bagdad durch zwei US-Kampfhubschrauber im Jahr 2007. Acht Männer, darunter der erst 22-jährige Reuters-Fotograf Namir Noor-Eldeen, wurden bei dem Angriff erschossen, zwei Kleinkinder lebensgefährlich verletzt.

Im vergangenen Oktober fand vor dem Westminster Magistrates' Court die erste Anhörung Assanges zur Auslieferung statt. Sämtliche Beobachter und Journalisten nannten den Zustand des damals bereits seit sechs Monaten Inhaftierten als äusserst besorgniserregend.

John Pilger, der vielfach ausgezeichnete Journalist und Dokumentarfilmer, war bei der Anhörung dabei und schilderte kürzlich in einem Interview mit seinem australischen Kollegen Timothy Erik Ström seine Eindrücke während der ersten Anhörung im vergangenen Jahr:

«Julian war um fünf Uhr früh im Londoner Gefängnis Belmarsh geweckt worden, bevor ich ihn zum ersten Mal sah. Nachdem ich selbst eine halbe Stunde lang Sicherheitskontrollen durchlaufen musste, fand ich eine dünne Gestalt, die in einer Ecke sass – ein schmerzlicher Anblick. Assange hatte innerhalb weniger Monate mehr als zehn Kilo abgenommen. ‹Ich glaube, ich verliere den Verstand›, waren seine ersten Worte», berichtet Pilger.

Das eigentliche Gerichtsverfahren, in dem über Assanges Auslieferung an die USA entschieden werden soll, begann im September dieses Jahres. Auch an diesem Prozess nahm John Pilger teil.

«Ich sass schon in vielen Gerichten, aber ein derart korruptes Verfahren habe ich noch nie gesehen – das ist pure Rache», kritisiert Pilger das Verfahren. Assange sei hinter dickem Glas eingesperrt gewesen und habe auf den Knien durch einen engen Schlitz hindurchkriechen müssen, um mit seinen Anwälten zu sprechen.

Dieses Prozedere – Assange in den Anklagekäfig zu verbannen – hatte Richterin Vanessa Baraitser bereits im Vorfeld angeordnet, indem sie einen Antrag der Verteidigung, Assange neben seinen Anwälten sitzen zu lassen, zurückgewiesen hatte.

«Beim Gerichtshof angekommen, wurde Assange in seinen engen Käfig gepfercht. Er blinzelte und versuchte, durch das Spiegelbild des Glases bekannte Gesichter zu erkennen.»

«Das hat mich an die stalinistischen Schauprozesse erinnert, mit dem Unterschied, dass der Angeklagte damals vor dem eigentlichen Gericht gestanden ist», sagt Pilger. Die durch das Tragen einer Gesichtsmaske kaum hörbare Nachricht von Assange habe per Post-It-Zettel über die gesamte Länge des Gerichtssaals an die Anwälte weitergeleitet werden müssen.

Vor jedem Gerichtstermin sei Assange im Morgengrauen durchsucht, gefesselt und für den Transport zum Strafgerichtshof vorbereitet worden. Seine Partnerin Stella Moris habe den Transportlastwagen als umgedrehten Sarg bezeichnet. «Beim Gerichtshof angekommen, wurde Assange in seinen engen Käfig gepfercht. Er blinzelte und versuchte, durch das Spiegelbild des Glases bekannte Gesichter zu erkennen. Als er seinen Vater John Shipton und mich sah, hoben sich unsere Fäuste. Julian streckte seine Hand durch den Glasschlitz aus um Stella zu berühren, die als Anwältin ebenfalls im Gericht sass».

Stella Morris ist nicht nur Julian Assanges Anwältin. Die beiden sind seit fünf Jahren ein Paar und haben zwei gemeinsame Söhne.

Die Voreingenommenheit des Gerichtes, die Pilger während der Verhandlungen erlebte, macht jede Vorstellung von britischer Gerechtigkeit zunichte. Wegen blosser Kautionsverletzung habe ihn ein Richter zu einer 50-wöchigen Haftstrafe in einem Hochsicherheitsgefängnis verurteilt – diese Strafe war unmittelbar nach der Verhaftung in der Botschaft vollzogen worden. Monatelang habe er in Einzelhaft gesessen, sportliche Betätigung sei ihm verboten worden – unter dem Vorwand der «Gesundheitsvorsorge». Assange habe ihm erzählt, so Pilger, dass er die Länge seiner Zelle ständig hin und her gelaufen sei – für seinen eigenen Halbmarathon.

Bereits als Assange noch in der ecuadorianischen Botschaft lebte, habe man ihm seine Lesebrille und juristische Dokumente zu seiner eigenen Verteidigung verweigert. Jetzt im Gefängnis von Belmarsh verwehrt man ihm den Zugang zur Gefängnisbibliothek und die Benutzung eines einfachen Notebooks. Er habe seine amerikanischen Anwälte nicht anrufen dürfen und sei regelmässig mit Medikamenten behandelt worden. Auf Pilgers Frage, was sie ihm geben würden, wusste Assange keine Antwort.

Durch die zahlreichen Schädigungen aufgrund der Haftbedingungen habe der Intellekt von Assange stark gelitten, bestätigte Dr. Kate Humphrey, Neuropsychologin und medizinische Gutachterin am Londoner Imperial College. Professor Nils Melzer, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen, habe die Methoden nach eigenem Augenschein als «psychologische Folter» bezeichnet, durch bandenartiges «Mobbing» verschiedener Regierungen und Medien. Damit nimmt er vor allem auch Bezug auf die im Jahr 2010 nach den «Vorfällen» in Stockholm entfachte Schmutzkampagne gegen Assange.  

Pilger will nicht alle die Einzelheiten der Expertenberichte nennen, sie seien zu schockierend. Nur soviel wolle er sagen: Bei Assange wurden Autismus und das Asperger Syndrom diagnostiziert und laut dem Neuropsychiater Michael Kopelman leide er unter Selbstmordgedanken. Er werde vermutlich einen Weg finden, sich das Leben zu nehmen, sobald er nach Amerika ausgeliefert würde.

Und warum das Ganze? «Das einzige Vergehen von Assange war sein epochaler Dienst an der Öffentlichkeit – er deckte auf, wozu wir alle ein Recht haben es zu wissen: Die Lügen unserer Regierungen und die Verbrechen, die sie in unserem Namen begehen», betont Pilger. Assanges Gründung von WikiLeaks und sein sicherer Quellenschutz revolutionierten den Journalismus und brachten ihn wieder zu seiner eigentlichen Vision zurück. Deshalb werde er so hart bestraft.

Bis zu einer Freilassung ist es noch ein weiter Weg. Während des gesamten Prozesses waren die Argumente der Verteidigung routinemässig zurückgewiesen worden. «James Lewis, der als leitende Ankläger die US-Regierung vertritt, bekommt bis zu vier Stunden Redezeit um Zeugen der Verteidigung zu diskreditieren, während die Verteidigung in einer halben Stunde guillotiniert wird», bilanziert Pilger seine Erfahrungen im Gericht. «Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Freiheit von Assange gesichert wäre, wenn es eine Jury im Gerichtssaal gäbe.»

Das Urteil über den Auslieferungsantrag soll am 4. Januar 2021 verkündet werden. Bis dahin muss Julian Assange im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh bleiben.