Verstösst eine Studie der Universität Bern gegen den Nürnberger Kodex?

Der «Verein Ethik und Medizin Schweiz VEMS» reicht gegen das Institut für Hausarztmedizin der Universität Beschwerde bei der Ethik-Kommission des Kantons Bern ein. Die Studie setzt Senioren einem möglicherweise erhöhten Infarkt-Risiko aus.

Führt die Absetzung eines Medikaments zur Cholesterinsenkung zu vermehrten Infarkten und Hirnschlägen? Diese Frage will das Institut für Hausarztmedizin der Universität Bern in einer Studie beantworten, gegen die der «Verein Ethik und Medizin Schweiz VEMS» Beschwerde eingereicht hat. Es geht um einen möglichen Verstoss gegen den Nürnberger Kodex.

In der sog. Stream-Studie werden 1800 Versuchspersonen über 70 Jahre angefragt, ob sie das cholesterin-senkende Statin absetzen wollen. Wer zustimmt, wird vom Computer zufällig einer von zwei Gruppen zugeteilt. Die einen erhalten weiterhin die Wirksubstanz, die anderen ein Placebo. Innerhalb von 12 bis 45 Monaten will man ermitteln, wie sich die Absetzung auf Nebenwirkungen, die Sturzgefahr und die Häufigkeit von Herzinfarkten und Schlaganfällen auswirkt.

Dazu schreibt der «Verein Ethik und Medizin Schweiz VEMS»:

«Dafür, dass Statin-Effekte im Alter plötzlich abnehmen sollen, gibt es keinerlei Evidenz. Die wissenschaftliche Situation ist lediglich so, dass für den Effekt zur Prävention von Herzinfarkt und Hirnschlag durch Statine ab 70 Jahren weniger Evidenz besteht als insgesamt. Dies ist allerdings wenig verwunderlich, Statine sind das Medikament mit der mit Abstand solidesten Wirkungs-Evidenz. Die Stream-Studie ist aus diesem Grund problematisch.»

Der Nürnberger Kodex, der 1947 im Nachgang zur gerichtlichen Aufarbeitung der Verbrechen der Nazi-Ärzte formuliert wurde, hält u.a. fest:
«Der Versuch muss so gestaltet sein, dass fruchtbare Ergebnisse für das Wohl der Gesellschaft zu erwarten sind, welche nicht durch andere Forschungsmittel oder Methoden zu erlangen sind.» Es sei von der Stream-Studie keine für das Wohl der Gesellschaft fruchtbaren Ergebnisse zu erwarten, schreibt der VEMS. Zu riskieren, dass die Studienteilnehmerinnen und Studienteilnehmer einen Herzinfarkt oder einen Hirnschlag erleiden, sei deshalb nicht verantwortbar.

Der VEMS bemängelt auch die Information der Studienteilnehmer über die Risiken, wo es u.a. heisst:

«Der Cholesterinspiegel wird ansteigen. Es ist jedoch nicht bewiesen, dass ein erhöhter Cholesterinspiegel ein Risikofaktor für einen Herzinfarkt/Schlaganfall bei 70+ Personen, die nie eine solche Krankheit erlitten haben, darstellt.»  Und weiter: «Ein Herzinfarkt/Schlaganfall kann trotz Statin/tiefem Cholesterinspiegel eintreten.»

Der VEMS dazu:
«Vor dem Hintergrund der Pandemie irritiert diese Aussage: Auch bei den Corona-Impfungen ist es so, dass eine Ansteckung dennoch nicht ausgeschlossen werden kann, ebenso ein schwerer, allenfalls tödlicher Verlauf. Es wäre aber verantwortungslos, unseren Senioren mit dieser Begründung zu raten, sie könnten auf die Impfung auch verzichten. Diese Irreführung nutzt Unsicherheiten der Seniorinnen und Senioren aus und ist möglicherweise ein weiterer Verstoss gegen den Nürnberger Kodex.»

Der VEMS hält die Stream-Studie des Berner Instituts für Hausarztmedizin aus diesen Gründen für verantwortungslos und hat am 29. Juni 2022 eine Beschwerde bei der Ethikkommission des Kantons Bern eingereicht.

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Pressemitteilung des VEMS vom 4. Juli 2022: «Studie des Berner Instituts für Hausarztmedizin verstösst möglicherweise gegen Nürnberger Kodex – VEMS reicht bei der Ethikkommission Beschwerde ein

11. Juli 2022
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