Virtuelle Träume: Von der Wahrheit des Mythos
Die Fantasy-Industrie ist neben Big Pharma und Big Tech einer der grossen Gewinner der Corona-Krise. In einer Zeit voller Hightech, Materialismus und Wissenschaftsgläubigkeit bedient Fantasy unbewusste Sehnsüchte nach Transzendenz und Spiritualität.
Gemäss dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf hat der Corona-Lockdown den ohnehin gigantischen virtuellen Konsum Jugendlicher um 75 Prozent erhöht, allein bei den Onlinespielen. Drogenbeauftragte sind alarmiert. «Als Gründe für ihren vermehrten Medienkonsum nennen die Jugendlichen Langeweile, Stressabbau oder den Wunsch, der Realität zu entfliehen.»
Ob Film oder Computerspiel: Untersucht man, welche Inhalte die stärkste Anziehungskraft ausüben, landet man schnell bei dem Genre Fantasy. Von den Grundbedürfnissen einmal abgesehen, gibt es fast nichts, was die Menschen in ihrer Freizeit mehr interessiert. Das gilt nicht nur für Kinder und Jugendliche, sondern für alle Altersstufen, Bildungsgrade, beide Geschlechter und so gut wie alle Kulturkreise. Schon vor Corona produzierte das Genre einen Mega-Hit nach dem anderen: Game of Thrones, Harry Potter, Star Wars, bis hin zur Verfilmung literarisch bedeutender Werke wie Herr der Ringe oder Die unendliche Geschichte.
Kein Wunder, dass Wissenschaftler nach den tieferen Ursachen dieses Erfolgs fragen: Ist Fantasy mehr als blosse Unterhaltung, wie manche behaupten? Und wenn ja: was ist und worin besteht dieses «mehr»? Was meinte J.R.R. Tolkien (1892-1973), einer der einflussreichsten Fantasy-Autoren des 20. Jahrhunderts, wenn er Fantasy als einen «Kommentar zur Realität» verstanden wissen wollte und von der «Wahrheit des Mythos» sprach? Kann Fantasy gar als eine Form der «Zeitkritik» gelesen werden, wie der Literaturwissenschaftler Peter Hunt nahelegte? Und wenn ja: Worin besteht die Kritik, die Fantasy an unserer Gesellschaft übt?
Im Gewand einfacher Unterhaltung behandelt Fantasy existenzielle Grundfragen des Lebens: Das Rätsel des Bösen, die Rettung der Zivilisation, die Zukunft der Menschheit, die Hoffnung auf Glück. Fantasy behandelt solche Fragen allerdings auf völlig andere Weise als sonst meist üblich in unserer scheinbar aufgeklärten und zuweilen etwas kopflastigen Welt: nämlich in Form einer mythischen Bildersprache voller Mysterien und Symbole, deren Sinn zwar kaum noch jemand versteht, denen aber eine Kraft innewohnt, die man heute wieder sucht. «Fantasy gehört zum anderen Wissen der Menschheit», ist der Philosoph Frank Weinreich überzeugt. Ihre Sprache der Bilder ist nicht blosse Formsache, sondern ein anderer Inhalt als solcher. Die Einsicht, dass bildhaftes Denken andere und womöglich tiefere Schichten der Wirklichkeit erreicht, ist heute weitgehend verloren gegangen. Um Fantasy zu verstehen, muss sie wiederbelebt werden. Nur so ist echte Medienkompetenz möglich.
Das Genre Fantasy lässt sich «nur in Anlehnung an mythologisches Denken verstehen», weil es «in einem gewissen Sinne auch Mythos» ist, resümiert Weinreich den aktuellen Konsens der Forschung. Um die psychologische Wirkung von Fantasy-Computerspielen auf Jugendliche und ihr Suchtpotential richtig einordnen zu können, muss man sich folglich mit Mythologie befassen. Einige Mythen-Forscher sind inzwischen zu Einsichten gelangt, die in alten Kulturen selbstverständlich waren: Mythen und Märchen sind nicht blosse Ausgeburten der Phantasie, sondern Tore zu anderen Dimensionen der Wirklichkeit. Der Mythologe Kurt Hübner, seinerzeit Professor in Prag, schrieb ein umfangreiches Buch über «Die Wahrheit des Mythos» (1987), wo er das Vorurteil bekämpfte, Mythen seien «schlechthin Irrtum, Aberglaube oder Phantasterei»: «Welches Recht hat man dazu», fragt Hübner, «den Mythos im Ganzen als ein Gebilde der Phantasie, des Aberglaubens oder der Unwissenheit zu betrachten, während uns die Ontologie der Wissenschaft den Weg zur Wahrheit und objektiven Erkenntnis vermittelt habe? Die Antwort lautet: Dieses Recht gibt es nicht.» Hübner steht mit dieser Einschätzung nicht alleine da.
Schon Hegel sah im Mythos eine «notwendige Stufe der Selbstentfaltung des absoluten Geistes». Für Schelling waren «Wissenschaft und Mythos im Grunde gleichwertig». Nach C.G. Jung zeigt der Mythos eine Widerspiegelung der «Grundmuster und Strukturen menschlichen Seelenlebens». Für Steiner stecken in Mythen «tiefe Wahrheiten, die mit der Wirklichkeit mehr zusammenhängen als diejenigen Wahrheiten, welche durch die moderne Naturwissenschaft […] ausgesprochen werden».
Die Anziehungskraft moderner Fantasy beruht unter anderem darauf, dass sie in mythologischer Form Inhalte vermittelt, die der materialistischen Gesellschaft unserer Tage weitgehend abhandengekommen sind. Denn mythologisches Bewusstsein ist immer auch spirituelles Bewusstsein. Um Fantasy zu verstehen, muss man sich daher mit spirituellen Lehren aller Art auskennen: mittelalterliche Mystik und Alchemie gehören dabei ebenso zum Pflichtprogramm wie die Geheimlehren des Altertums und der antiken Gnosis und neuere Formen der Spiritualität wie Theosophie, Anthroposophie, Esoterik und PSI. Denn solche Lehren werden für die Gestaltung von Fantasy-Werken ausgiebig genutzt! Weil viele Fantasy-Interpreten und Medienpsychologen das nicht wissen, sind ihre Werk-Besprechungen und Analysen oft sehr oberflächlich. Ein Materialist kann Fantasy schon deshalb nicht verstehen, weil das Weltbild, das innerhalb der Fantasy-Welten vorherrscht, ein ganz anderes ist.
Man sagt mit Recht, Fantasy habe «ihre Wurzeln in der Romantik» (Brockhaus), also in einer literarischen Bewegung, die schon im 19. Jahrhundert gegen das damals aufstrebende materialistische Weltbild rebellierte. Was in Werken wie Harry Potter scherzhaft rüberkommt, die Unwissenheit der sogenannten «Muggel» über die magischen Hintergründe der Welt ist eine versteckte Form der Zeit- und Gesellschaftskritik: Die Welt der «Muggel», wie es in Harry Potter heisst, also die Welt des typischen Materialisten westlicher Prägung, ist in vielerlei Hinsicht beschränkt – personifiziert etwa in dem typischen Spiessbürger «Onkel Vernon», der den Wert eines Menschen nach der Dicke seines Autos bemisst. Er und sein Sohn Dudley sind wandelnde Karikaturen der materialistischen Zivilisation; konsumsüchtig, technikbesessen, unspirituell und vieles andere mehr, das dazu geeignet ist, eine lebensfeindliche Zivilisation hervorzubringen. Sie mögen stolz sein, die Wissenschaft zu besitzen – vom Standpunkt eines «anderen Wissens» hingegen, dem der «Zauberer» nämlich, zu denen auch Harry Potter gehört, sind die Muggel unwissend.
Ähnlich steht es um die Normalbevölkerung in Werken wie Avatar, Matrix oder Star Wars: Immer haben sie eine desaströse Entwicklungsrichtung eingeschlagen, an deren Ende apokalyptische Szenarien wie die totale Maschinisierung aller Lebensverhältnisse, Kulturverfall und Totalitarismus stehen. Das Werteverhältnis ist in Fantasywelten also gerade umgekehrt wie in der ausserfiktionalen Wirklichkeit: Nicht der spirituell Denkende gilt als versponnen und realitätsfern, sondern der materialistische Otto-Normal-Verbraucher.
In puncto Mediensucht ist das ein wichtiger Punkt. Denn während des Konsums von Fantasy kommt man in den Genuss, sich in einer Welt beheimatet zu fühlen, in der Spiritualität selbstverständlich ist. Dadurch entsteht ein wichtiger Suchtfaktor: Je materialistischer und sinnentleerter die reale Welt ist, desto grösser wird die Anziehungskraft virtueller Spiritualität. Das Interesse an Fantasy wird daher mit Recht als Ausdruck eines unbewussten «Bedürfnisses nach Metaphysik» erklärt (Weinreich), das in einer zunehmend säkularisierten sowie spirituell unterkühlten Welt kaum noch Anhaltspunkte findet. Es ist zudem ein Bedürfnis, das man sich heute kaum mehr eingesteht. Metaphysik und Spiritualität geniessen schon lange nicht mehr das Ansehen, das ihnen einst vergönnt war. Wer sich für sie interessiert, gilt eben als «Esoteriker», mit das Schlimmste, was einem Wissenschaftler heute passieren kann. Könnte dies einer der Gründe dafür sein, weshalb gerade beim Thema Fantasy oft um den heissen Brei herumgeredet wird? Warum werden die – für jeden Kenner offenkundigen – spirituellen Hintergründe der Blockbuster kaum thematisiert? Und warum wurde ausgerechnet dieses erfolgreiche Genre bislang nur «einer vergleichsweise geringen Menge theoretischer Betrachtungen»(Weinreich) unterzogen? Sicher ist:
Jeder, der es unternimmt, Fantasy zu untersuchen, kommt unweigerlich an den Punkt, an dem er sich dem erwähnten «metaphysischen Bedürfnis» stellen muss. Dies zu vermeiden, scheint für viele aber gerade die Funktion von Fantasy zu sein: Fantasy, sagt Weinreich, verschafft uns einen Zugang zu Metaphysik in Form eines fiktiven Reichs, «das sich mit anderen teilen lässt, ohne dass man sich des Betretens oder seiner Kenntnis schämen [!] müsste.» Reiner Spiritualität hingegen müsste man sich schämen? – Zumindest in westlicher Gesellschaft: Ja! Wir wagen sie nur noch versteckt in fiktiven Schleiern, dort aber umso ausgiebiger.
Schon der Fantasy-Autor Michael Ende wusste um diese geheime (Sehn-)Sucht des Menschen: «Der heutige sogenannte Erwachsene betrachtet alles Wunderbare und Geheimnisvolle als ‹irrational›, als ‹phantastisch› oder ‹eskapistisch› oder wie die abwertend gemeinten Vokabeln alle heissen mögen. Doch räumt er all dem, was er für sich selbst als unbrauchbar erachtet, in der Kinderliteratur nolens volens ein gewisses Daseinsrecht ein. Manchmal nascht er heimlich daran, wenn ihn der grosse Katzenjammer ob seiner total entzauberten Welt überkommt, aber eben nur, wenn es keiner sieht. Sonst schämt er sich.»
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Ingo Hoppe studierte Philosophie und Geschichte in Basel und arbeitet seit 1999 u.a. als freier Journalist. Die Universitätsreform (Bolognaprozess) verarbeitete er in dem Buch «Der freiheitliche Universitätsbegriff Wilhelm von Humboldts» (fiu-verlag, 2015). Des Weiteren veröffentlichte er über die Zukunftsvision des russischen Philosophen Wladimir Solowjew: «Eine kurze Erzählung vom Antichrist» .
Aktueller Schwerpunkt ist die Erforschung spiritueller Inhalte in Filmen und Computerspielen. Ein Buch zum Thema soll dieses Jahr erscheinen. Ingo Hoppe hält Vorträge zu zeitgeschichtlichen, philosophischen und spirituellen Themen. Er ist Mitbegründer der Freien Akademie, die sich für den Aufbau eines unabhängigen Hochschulwesens engagiert.
Kontakt: freieakademie.info
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Ingo Hoppe
Ingo Hoppe
studierte Philosophie und Geschichte in Basel; seit 1999 als freier Journalist unterwegs. Die Universitätsreform (Bolognaprozess) verarbeitete er in dem Buch: Der freiheitliche Universitätsbegriff Wilhelm von Humboldts (fiu-verlag.com).
Desweiteren veröffentlichte er über die Zukunftsvision des russischen Philosophen Wladimir Solowjew: Eine kurze Erzählung vom Antichrist (urachhaus.de).
Aktueller Schwerpunkt ist die Erforschung spiritueller Inhalte in Filmen und Computerspielen (siehe ZP 145 Krieg der Götter und ZP 149 Ihr seid Götter). – Ingo Hoppe hält auf Anfrage Vorträge zu zeitgeschichtlichen, philosophischen und spirituellen Themen.
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