Vom politischen Geschwätz
In seiner grossen Erzählung «Im Taxi» zitiert der ägyptische Autor al-Chamissi einen Kairoer Taxifahrer: «Wir leben in einer einzigen Lüge und glauben daran. Die Regierung ist nur dazu da zu prüfen, ob wir die Lüge wirklich schlucken, finden Sie nicht auch?» Und wenn wir nun in diesem Taxi sässen, was würden wir als deutscher (oder Schweizer) Fahrgast antworten? Die Samstagskolumne.
Ich will die Antwort einmal offen lassen. Nur: Kann denn angesichts der unfassbar dichten Terminpläne eines Abgeordneten mehr herauskommen als Geschwätz? Auch von den intelligentesten unter diesen Opfern des Parlamentarismus ist kaum Besseres zu erwarten als intelligent klingendes Geschwätz. Das ist strukturell vorprogrammiert.
Schon die Abgeordneten eines Stadtparlaments müssen sich mit für Aussenstehende unvorstellbaren Details herumschlagen, um sich auf die nächste Sitzung vorzubereiten. Zehn Beschlussvorlagen pro Woche sind keine Seltenheit; das bedeutet nicht nur, zig Seiten oft völlig fremder Inhalte zu lesen, sondern auch zu verstehen, um sachkundig mitreden zu können.
Halbwahrheiten sind der Normalfall
Überforderung ist ihr Alltag. Letztlich müsste jedes Mitglied eines Parlaments hochintelligent sein, umfassend gebildet und auf gar keinen Fall interessengelenkt. Was bleibt also den armen Leuten übrig, wenn sie ihren Job behalten wollen? Sie müssen, möglichst professionell, so tun als ob – also schwätzen. Erst recht gilt das für die höheren Chargen, die dann nicht über die Höhe einer Strassenreinigungsgebühr oder die lokale Hundesteuer zu befinden haben, sondern über den Bau ganzer Autobahnen oder die Genehmigung von Industriebetrieben; Menschen, die eine Grossstadt, ein Bundesland oder einen ganzen Staat zu regieren haben.
Wer im Monat zwanzig, dreissig Reden halten muss, von Termin zu Termin, von Ausschuss zu Ausschuss und von Pressetermin zu Pressetermin hetzt, zwischendurch auch noch einmal im Parlament auftauchen will und einen Restanspruch von Privatleben verteidigt, für den müssen Charakter und Selbstkritik zwangsläufig auf der Strecke bleiben, von Weisheit gar nicht zu reden. Ein solches Pensum erledigt nur, wer sich auf ein Heer von Zuarbeitern verlässt. Und wer kann schon deren Kompetenz, Verantwortungsgefühl, Unabhängigkeit, Weitsicht und Loyalität beurteilen?
Keinem politisch Verantwortlichen in gehobener Position bleibt etwas anderes übrig, als sich permanent abzusichern, um wegen der tausend Halbwahrheiten nicht dingfest gemacht zu werden, zu denen er oder sie sich aufgrund der strukturellen Umstände gezwungen sieht.
Ethische Güterabwägung
Bis zu diesem Punkt könnte man meinen, ich wolle diese Menschen entschuldigen oder gar rechtfertigen. Schauen wir uns die Situation eines Soldaten an der Front an. Er ist vielleicht ein guter Vater und treuer Freund, aber gut gedrillt und kampfbereit gehorcht er seinen Offizieren und tötet Menschen auf Befehl. Dafür, dass er das tut, lassen sich plausible Gründe anführen, z. B. der schier unwiderstehliche Gruppendruck einer nationalen Hysterie, mit deren Hilfe die Masse auf die Notwendigkeit des Krieges eingeschworen wird. Sogar das Mordhandwerk des Soldaten lässt sich also nachvollziehen.
Aber ist es zu rechtfertigen? Die Nazis haben den Kriegsdienst unter Androhung der Todesstrafe erzwungen. Wer der Einberufung folgte, wählte anstelle des sicheren Todes nur den möglichen. Doch weder in der Ukraine noch in Russland oder Israel erwarten den Kriegsdienstverweigerer solche drakonischen Strafen, er muss «lediglich» mit Gefängnisstrafen rechnen. Der künftige Soldat steht also vor der ethischen Güterabwägung: Mord oder Gefängnis?
Zitronenpresse des politischen Alltags
Vor welcher Güterabwägung steht nun ein angehender Politiker in Landtags- oder Bundesparlamenten? Gewiss erwartet ihn Stress, doch auf der anderen Seite locken öffentliches Ansehen und lohnende Bezahlung. Klingt das nicht nach einer eher harmlosen Abwägung? Doch in welche Zwänge er gerät, kann er sich zu Beginn seiner Karriere unmöglich ausmalen. Ist er erst einmal in der grossen Mühle gelandet, ist nichts mehr harmlos; dann muss er Vermögen antasten oder nicht, Gesetze beschliessen oder nicht, Natureingriffe genehmigen oder nicht; seinen Fokus auf Familie und Freunde lenken oder aufs Vorwärtskommen.
In keinem Fall kennt er die Konsequenzen, in keinem Fall kann er letztlich die Verantwortung für das übernehmen, was ihm aufgebürdet ist. Und ausserdem: Das nächste Interview, die nächste Talkshow warten schon, das nächste zuverlässige Geschwätz. Doch wie auch immer ein Politiker sich entscheidet – oder zu entscheiden glaubt –, letztlich ist es nicht die Ursache des politischen Geschwätzes, sondern das System von Sachzwängen, das diese wohltönenden Nichtigkeiten aus seinem Mund herausquetscht wie eine Presse den Saft aus Zitronen.
Das System, der unsichtbare Puppenspieler
Weder geht es mir darum, Politikern ihr Geschwätz vorzuwerfen, noch sie davon zu entlasten. Beides, Vorwurf und Entschuldigung, lenkt von der Tatsache ab, dass Politiker an unsichtbaren Leinen geführt sind, dass ihre Lippen, ihr Herz und ihr Geist vom Zug dieser Leinen aus allerlei Richtungen in Bewegung gesetzt werden. Sie sind Marionetten, ohne um die Fernlenkung ihres Tuns zu wissen, denn es gibt keinen sichtbaren und greifbaren Marionettenspieler. Gerade diese Unsichtbarkeit der systemischen Umstände verleitet so manchen Aussenstehenden dazu, eine Geheimorganisation hinter diesem bösen Spiel zu vermuten oder auf einen Bund von Verschwörern zu schliessen – und nimmt damit Teil am grossen, politischen Geschwätz, anstatt sich um die Abschaffung des Systems zu kümmern.
Das Gegengift der Geschwätzigkeit
Bis dahin wäre es für Sie und für mich eine Idee, die Dinge und Themen, die zu bewegen sind, auf die eigene, innere Waage zu legen. Links liegt das, was mir wichtig ist, Liebe und Mitgefühl beispielsweise. Auf der rechten Seite habe ich mein oder Ihr «Thema» platziert. Dann halten wir inne und beobachten, wie sich der Waagbalken langsam in Bewegung setzt; denn Stille ist nun einmal das Gegengift von Geschwätzigkeit. Hingegen sind Stress, Zeitnot und die Furcht vor Gesichtsverlust ihre Ursachen.
In diesem Moment der Stille also frage man sich: Was wird, ja, was darf jetzt schwerer wiegen als Liebe und Mitgefühl? Im Zweifelsfall stehen einem für die linke Waagschale noch ein paar Kilo Humanität und Sachlichkeit zur Verfügung. Dann spricht sich vielleicht herum, dass mit diesen vier Schwergewichten – Liebe und Mitgefühl, Humanität und Sachlichkeit – auch die ärgste Geschwätzigkeit in die Knie geht; und dann, vielleicht sogar nur dann, geht es auch dem System endgültig an den Kragen.
von:
Über
Bobby Langer
*1953, gehört seit 1976 zur Umweltbewegung und versteht sich selbst als «trans» im Sinn von transnational, transreligiös, transpolitisch, transemotional und transrational. Den Begriff «Umwelt» hält er für ein Relikt des mentalen Mittelalters und hofft auf eine kopernikanische Wende des westlichen Geistes: die Erkenntnis nämlich, dass sich die Welt nicht um den Menschen dreht, sondern der Mensch in ihr und mit ihr ist wie alle anderen Tiere. Er bevorzugt deshalb den Begriff «Mitwelt».
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