«Vor 40 Jahren hätten wir uns durchlöchert»

Früher waren der Ex-Militär Rodolfo Richter und der ehemalige Guerillakämpfer Carlos Gabetta Erzfeinde. Heute sitzen die beiden Argentinier am selben Tisch und versuchen, die Zeit von damals zu begreifen.

Camilla Landbø: Herr Richter, als Sie Gabetta das erste Mal begegneten, verspürten Sie keinen Groll? Immerhin hat seine Guerillagruppe ERP Sie in den Rollstuhl gebracht.

Richter: Nein. Ich sehe mich auch nicht als Opfer und schon gar nicht als unschuldig. Gabetta hat als Guerillero seine Frau und Mitstreiterin verloren. Sie war seine grosse Liebe gewesen. Das berührt mich. Am Ende haben wir beide – Gabetta und ich – Verletzungen an Körper und Seele erlitten.

Und Sie, Gabetta?

Gabetta: Groll? Nein, das ist etwas, das ich nie verspürt habe. Nicht gegen die Militärs, nicht gegen Richter. Ich bewundere ihn sogar. Weil er sich den Sachen immer gestellt hat. Erst als Soldat im Kampf, dann als Verletzter. Er ist wieder aufgestanden, hat studiert und am Ende seine Uni-Abschlussarbeit über uns, die ERP, geschrieben – wir, die wir ihn im Rollstuhl zurückgelassen haben.

Wann sind Sie sich zuerst begegnet?

Gabetta: Vor rund drei Jahren, wegen seiner Uni-Arbeit. Klar, beim ersten Treffen haben wir uns genau unter die Lupe genommen. Uns beiden wurde rasch klar, dass damals nicht wir die Bösen waren. Er nicht innerhalb des Militärs, ich nicht bei den Guerilleros.

Richter: Ich bin sowieso überzeugt, heute mehr denn je, dass die wirklich Bösen hinter ihren Schreibtischen sitzen, einen Anzug tragen und das Telefon ihre Waffe ist.

Am Ende haben Sie sich sogar dazu entschieden, gemeinsam ein Buch über Ihre Gespräche und die Zeit von damals zu schreiben.

Gabetta: Ja, man stelle sich das vor! Wären wir uns vor vierzig Jahren gegenübergestanden, wir hätte uns durchlöchert.

Herr Richter, Sie setzten sich für Ordnung, Pflicht und Werte wie Ritterlichkeit ein. Sie, Herr Gabetta, für soziale Gerechtigkeit. Was ist mit Ihren Feindbildern?

Gabetta: Mein Feind war der Imperialismus, die rechten Politiker, die Verantwortlichen der Armut. Im Grunde genommen waren nicht die Militärs meine Feinde, diese waren ja nur ein Instrument meiner Feinde.

Richter: Meine Feinde waren die bewaffneten Gruppierungen, die Militärs erschossen, Bomben legten. Als junger Mann wollte ich sie vernichten. Heute denke ich, dass der grösste Feind in einem selbst ist.

Es passierten offenbar Fehler auf beiden Seiten.

Richter: Im Kampf gegen die Untergrundbewegungen haben die Militärs Verbrechen wie Folter begangen, auch haben sie Menschen verschwinden lassen. Innerhalb des Militärs gab es allerdings Leute, die nie illegale Mittel anwendeten, so wie ich. Deswegen plädiere ich dafür, dass die Schuld nicht dem gesamten Militär zugeschoben wird, sondern jenen, die wirklich verantwortlich sind.

Gabetta: Die Guerilla mordete nicht um des Mordens willen. Wir radikalisierten uns, weil uns die Umstände dazu zwangen. Es war damals ein Wahnsinn, wie im Nationalsozialismus. Nichtdestotrotz, auch die Guerilla begann Verbrechen, die aufgearbeitet werden sollten. So müsste man über die Moral oder Unmoral einiger Aktionen sprechen, bei denen unschuldige Menschen mit in den Tod gerissen wurden.

Früher Feinde, heute Freunde?

Richter: Ja. Ich höre ihm zu und versuche ihn zu verstehen.

Gabetta: Er ist nach wie vor ein katholischer Nationalist. Er versteht nicht, dass Gott nicht existiert, dass die Rechte reaktionär ist. Die Ideologie trennt uns heute noch. Dennoch, wir sind Freunde geworden, rufen uns regelmässig an.

Und wie geht es weiter, was sind Ihre Wünsche und Hoffnungen?

Richter: Obwohl ich ein Mann bin, der glaubt, dass das Leben aus Kampf besteht, wünsche ich mir den Frieden – erreichbar durch Wahrheit und Justiz. Wir sollten an eine gemeinsame Zukunft denken und die gesellschaftliche Spaltung hinter uns lassen.

Gabetta: Ich glaube nach wie vor an eine bessere Welt. Heute hätte es genug Lebensmittel und Ressourcen für die ganze Menschheit. Statt sie gerecht zu verteilen, passiert das Gegenteil. Das System müsste radikal ändern. Ich würde sagen, ich bin ein Pessimist wegen der Intelligenz, ein Optimist wegen des Willens. (lacht)
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Buch auf Spanisch: Enemigos: dos protagonistas reflexionan hoy sobre la violencia de los 70, Eudeba, 2018.

Carlos Gabetta

Schon als junger Mann glaubte er an eine bessere Welt. Er war eine Leseratte, ein Abenteurer, Sozialist und Pazifist. Als er als 25-Jähriger bei einem friedlichen Schweigemarsch einen gewalttätigen Polizeieinsatz in Rosario erlebte, sagte er zu seinem Bruder: «Das nächste Mal komme ich auch mit einer Waffe.» Drei Jahre später, 1972, trat er in die linke Guerillaorganisation Revolutionäre Volksarmee (ERP) ein. Für die argentinische Regierung war er ein Terrorist, den es zu eliminieren galt. Gabetta, zu dieser Zeit bereits Journalist, übernahm in der ERP geheimdienstliche Aufgaben. Eines Tages, bei einem konspirativen Treffen in einem Landhaus ausserhalb von Buenos Aires, umstellten Polizisten und Militärs das Gut. Gabetta und seine Frau, ebenfalls ERP-Mitglied, rannten um ihr Leben. Seine Frau wurde angeschossen, Gabetta gelang die Flucht. Was mit ihr geschah, erfuhr er vorerst nicht, sie verschwand. Er tauchte unter und ging 1976 ins Exil nach Frankreich. Nach der Diktatur, 1984, kehrte er nach Buenos Aires zurück. Seine Frau figurierte mittlerweile auf der offiziellen Liste der Verschwunden in Argentinien. Erst 2004 entdeckte man ihren Leichnam. Der 75-Jährige lebt heute in Buenos Aires, hat zwölf Bücher verfasst und schreibt für die renommierte Tageszeitung Perfil.

Rodolfo Richter

Das Militär war für ihn eine ehrenwerte, angesehene Institution, wo man nationalen Pflichten nachging und eine gute Ausbildung genoss. Dass er eine militärische Karriere antrat, war allerdings Zufall. Seine Eltern stellten ihn als 13-Jährigen vor die Wahl: katholische oder militärische Grundschule. Als er bei der Besichtigung der katholischen Schule erfuhr, dass man jeden Tag in die Messe muss, überzeugte ihn die Militärschule in Córdoba sofort. Nachdem er 1967 die Sekundarschule abgeschlossen hatte, ging er nach Buenos Aires an die Nationale Militärschule. Er mochte Bücher über internationale Militärgeschichte. 1970 beendete er als Unterleutnant seine Ausbildung und trat ins Regiment der Fallschirmspringer ein. Als 26-Jähriger nahm er an der bekannten «Operation Unabhängigkeit» in Tucumán teil. Zahlreiche Guerilleros hatten sich im Norden Argentiniens in einem bewaldeten Gebiet verschanzt. Richter und seine Militärkollegen griffen an. Es kam zu harten Gefechten mit vielen Toten. Er wurde niedergeschossen. Seither sitzt er im Rollstuhl. 1978 begann er Politikwissenschaften an der Katholischen Universität von Argentinien zu studieren. 1993 zog er sich als Oberstleutnant vom Militär zurück. Heute doziert der 69-jährige Professor an der Katholischen Universität in Buenos Aires.

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