Warum wir trauern müssen

Schmerz und Leid sind lästige Einbrüche in die Schutzhülle der Normalität. Aber wenn Sie das Instrument der Trauer in sich kultivieren, dann können Sie vielleicht eines nahen Tages sogar über einen umgehauenen Baum trauern. Die Samstagskolumne

Foto: Markus Spiske

Meine Trauer begann an einem konkreten Sommertag im Jahr 1976. Davor hatte ich ein Jahr in Schottland verbracht und währenddessen nicht nur die schottische Sprachmelodie entdeckt und lieben gelernt, sondern auch den Schmerz erfahren, der über dieser entwaldeten und entvölkerten, blutgetränkten Landschaft lag. In vielen Wanderungen hatte ich sie in mich aufgenommen; zwischen Steinen und Moosen hatte ich ihre Nebel um mich und in mir gespürt.

Der Würde beraubt

An jenem klaren Sommertag 1976 also war ich mit meinen Eltern im Bayerischen Wald auf einem weichen, wurzeldurchzogenen Pfad unterwegs, als ein verstörendes Geräusch die Stille zerriss. Je weiter wir voranschritten, desto lauter und hässlicher wurde es, bis wir schliesslich die Baumfäller erreichten, das metallene Kreischen verstummte. Doch nun ertönte ein organisches, den Wald zerreissendes Ächzen, eine brüllende Klage, die in ein lautes Knirschen und stürmisches Fauchen überging und endlich mit einem dumpfen Knall verstummte. Von drei kleinen Menschen gefällt lag der mächtige Baum klaglos und seiner Würde beraubt im Unterholz.

Und mir war es, als wäre mir sein Schmerz in die Seele gefahren, und zum ersten Mal füllte mich die Trauer um ein Lebewesen vollständig aus; kein Zorn über diesen Akt profitabler Willkür, nur Trauer; aber nicht nur über den Baum, sondern auch über meine Mitmenschen, die ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, das Leben geraubt hatten. Sie handelten, spürten und dachten, wie ich vielleicht noch zehn Minuten zuvor gehandelt, gespürt und gedacht hatte. Ich konnte sie nicht verurteilen. Alles war normal. Sie erhielten ihren Lohn und verrichteten ihre Arbeit wie andere Söldner auch.

Seine seelische Gesundheit erhalten

Heute empfinde ich diesen drei Männern gegenüber sogar eine gewisse Dankbarkeit; denn ohne sie hätte ich jenen Schmerz nicht erlebt, und die Trauer hätte nicht in mir Wurzeln schlagen und ein reiches Myzel ausbilden können. Ohne sie hätte ich vielleicht meine schottischen Erfahrungen klaglos ad acta gelegt; ohne sie wäre ich heute möglicherweise ein Schuldirektor oder bayerischer Ministerialrat, mit einer Ehrenmedaille in den „wohlverdienten Ruhestand“ verabschiedet.

Vielleicht ahnt die Leserin, weshalb ich mir das politisch inkorrekte Muss in der Überschrift dieses kleinen Essays geleistet habe: «Warum wir trauern müssen!» Tagtäglich schreiten wir die Front der schrecklichen Nachrichten ab, gehen dann einkaufen, trinken ein Glas Tee und beruhigen uns wieder, als sei nichts gewesen, als sei alles gut. Viele von uns sind diese Schreckensroutine leid, boykottieren Tagesschau & Co und gönnen sich positive Nachrichten als die Pralinen des Alltags. Aber eine Lösung ist das nicht, es ist der oft verzweifelte Versuch, sich seine seelische Gesundheit zu erhalten.

Nicht zu Rabenvätern werden

So legitim das erscheint, so wenig sollten Notmassnahmen zum Normalverhalten werden. Warum mir das wenig sinnvoll erscheint? Leid und Tod, sei es von Mitmenschen oder Mitgeschöpfen wie jenem Baum, werden üblicherweise auf zweierlei Weise behandelt: Entweder werden sie weitgehend tabuisiert (wie gegenwärtig Leid und Tod im Nahen Osten oder im Jemen, wie einst Leid und Tod in Afghanistan oder Irak oder im Kongo) und damit ausgeblendet, oder sie werden auf Argumente und Gegenargumente, auf nackte Logik reduziert.

Nun stellen Sie sich bitte einen Vater vor, der angesichts seines sich vor Schmerzen windenden Kindes keine Miene verzieht, sondern kühl argumentiert: «Das sind doch nur leichte Verletzungen», und sich dann wieder entspannt der Pflege seines Autos zuwendet. Wäre das kein Rabenvater? Das arme Kind. Sollten wir ihm nicht das Erziehungsrecht entziehen? Aber genau so verhalten wir uns im Grossen und Ganzen angesichts des grassierenden Leids auf der Welt (vom menschlichen Leid abgesehen: Im Jahr 2023 erklärten Wissenschaftler des U.S. Fish and Wildlife Service offiziell 21 Arten, darunter Vögel, Muscheln, Fische und ein Säugetier, für ausgestorben. Der Borneo-Zwergelefant und die kanarischen Reptilien sind als nächste dran).

Wir ordnen das Leid nach vorgegebenen Bewertungsschemata ein (z. B. «geschieht ihnen recht» vs. «die Armen») und geben uns damit zufrieden. Wir verhalten uns, als ob wir einen tragischen Film gesehen hätten und anschliessend gemütlich essen gehen. Füllt das erste Drittel der Pizza unseren Magen, atmen wir auf und können wieder entspannt über die schlimmen Szenen sprechen, über die schauspielerische Leistung der Hauptdarstellerin, über die erstaunliche Echtheit ihrer Tränen. Und zwei Wochen später kann es sein, dass uns der Alltag diesen Film bereits aus dem Gedächtnis gelöscht hat.

Sollten wir sie nicht aus ihren Ämtern jagen?

Ganz normal, nicht wahr? Denn Schmerz und Leid sind ja quasi tabu. Sie sind lästige Einbrüche in die Schutzhülle der Normalität und sollen gefälligst an den Orten bleiben, die wir dafür reserviert haben: in Waisenhäusern, Pflegeheimen, Krankenhäusern, im Hospiz, an den europäischen Aussengrenzen und in den afrikanischen Auffanglagern. Doch indem wir die Nachrichten über Leid und Tod aus unserem Leben ausklammern, beteiligen wir uns nicht nur an deren Tabuisierung, wir verstärken diese sogar.

Aber wie können wir dann jemals ins Handeln kommen? Die Tragödien dort draussen in der Welt sind schliesslich kein Schauspiel. Jede Granate und jeder winselnde Soldat, jedes elternlose Kind vor seinem ausgebrannten Elternhaus, jedes zerfetzte Bein und jedes versengte Gesicht ist echt. Und die ungeheuerlichsten Bilder werden uns ohnehin erspart. Sollten wir nicht denen, die all dies Leid, gleich mit welcher moralischen Bemäntelung, gutheissen oder sogar aktiv aufrechterhalten, fördern, finanzieren oder daran verdienen, unsere Solidarität entziehen? Ja, sollten wir sie nicht endlich aus ihren Ämtern jagen? Aber wie sollen wir diese Distanzierung zum Massenverhalten leisten, wenn am Morgen nach dem Leid der Kaffee ebenso gut schmeckt wie am Abend davor? Wie sollen wir unser Gewissen wach und unsere Seele empfindungsfähig halten?

Die unmenschliche Verlogenheit des Denkens

Ich weiss nicht, wie es sonst gehen könnte, aber mit Trauer gelingt es gewiss. Ich will das mit einem Beispiel erklären. Stellen Sie sich vor, Ihr Kind wäre nach zweijährigem Leid an Krebs gestorben. Zwei Jahre waren Sie regelmässig auf der Kinderkrebsstation, haben gute Miene zum bösen Spiel gemacht, um es in seinem Überlebenskampf zu unterstützen. Aber schliesslich lag es doch auf dem Totenbett. Die Trauer darüber werden Sie lange, vermutlich sogar für immer, in sich tragen. Und eben deswegen werden Sie mit allen Müttern der Welt mitfühlen können, deren Kind unter schlimmen Umständen ums Leben gekommen ist. Und wenn Ihnen dann jemand erklärt, dass es doch nur ein israelisches, palästinensisches, ukrainisches oder russisches Kind war und sein Tod deshalb «nicht besonders schade», dann wird Ihre Trauer Ihnen ein guter Helfer sein, um die unmenschliche Verlogenheit solchen Denkens zu entlarven.

Das Instrument der Trauer kultivieren

Und wenn Sie nicht nur zufällig trauern, weil Ihnen persönlich etwas Schlimmes widerfahren ist – und wem nicht? –, sondern wenn Sie das Instrument der Trauer in sich kultivieren, dann können Sie vielleicht eines nahen Tages sogar über einen umgehauenen Baum trauern und ihn nicht als Gehwegverschmutzer oder ein paar Kubikmeter Holz wegrationalisieren. Und dann gelingt es Ihnen vielleicht sogar, Trauer über die aussterbenden Insekten zu empfinden und die verhungernden Vögel und den immer stilleren Frühling – übrigens auch in unseren Herzen, wenn die Liebe zur Mitwelt, ohne die angemessene Trauer, keine gesunde Nahrung erhält.

09. November 2024
von:

Über

Bobby Langer

Submitted by cld on Mi, 04/05/2023 - 07:30
Bobby Langer

*1953, gehört seit 1976 zur Umweltbewegung und versteht sich selbst als «trans» im Sinn von transnational, transreligiös, transpolitisch, transemotional und transrational. Den Begriff «Umwelt» hält er für ein Relikt des mentalen Mittelalters und hofft auf eine kopernikanische Wende des westlichen Geistes: die Erkenntnis nämlich, dass sich die Welt nicht um den Menschen dreht, sondern der Mensch in ihr und mit ihr ist wie alle anderen Tiere. Er bevorzugt deshalb den Begriff «Mitwelt».