Die Abschlussfeier lag hinter ihm, eine glänzende akademische Laufbahn erwartete ihn, ein glänzendes neues Auto wollte der Vater ihm schenken – doch Chris will das alles nicht. Er verlässt Washington D.C., wo er wohlhabend und behütet aufwuchs, er will die Lebenslügen der Eltern, die Kompromisse seiner Kollegen nicht länger mitmachen, er geht. Der blutjunge 22Jährige macht sich auf, um die Wahrheit zu finden und rein zu bleiben, unbeschmutzt von der Niedrigkeit dieser Welt.
Christopher McCandless zerschneidet seine Kreditkarte, verbrennt sein Geld und lässt sogar seinen Wagen stehen, obwohl es nur eine alte Schrottkiste ist. Er will sich trennen von allem, was ihn beschwert und ihm das schale Gefühl gibt, auch sich selbst zu belügen. Der Film «Into the wild» erzählt seine Geschichte. Es ist eine wahre Geschichte, und sie hat sich vor 35 Jahren genau so ereignet.
Jetzt habe ich den Film wieder gesehen. Und ich habe die Sehnsucht wieder gespürt, die Christopher damals zu seinem Ausstieg bewegte. Es ist dieselbe Sehnsucht, die auch junge Menschen von heute fühlen. Aber sie sind gefangen im Mainstream einer digitalisierten, videoüberwachten Welt, die selbst den Ausstieg aus ihr klimaneutral gestaltet.
Das war vor 35 Jahren noch nicht so. Zwei Jahre trampt der zum Hobo Gewordene per Autostopp und zu Fuss durch Amerika. Unterwegs begegnet er Menschen, die ihn beherbergen, die sich sorgen um ihn, sich verlieben in ihn. Chris jedoch setzt seine Suche fort. Er will keine Bindung. Er sucht nach der unberührtesten Natur, die er finden kann.
Sein Weg führt ihn, fast konsequent, nach Alaska. Ein Einheimischer nimmt ihn eine Strecke weit mit. Mitten in einem einsamen Waldgebiet möchte Chris aussteigen. Der etwas erstaunte Fahrer lässt ihn gehen. Es ist April und in Alaska liegt der Schnee immer noch kniehoch. Doch der unerfahrene Abenteurer lässt nicht von seinem Vorhaben ab. Querfeldein kämpft er sich durch die verschneite Wildnis, ohne richtige Karte und ohne Kompass. Nach der Überquerung eines vereisten Flusses stösst er mitten im Wald auf einen Bus, der wegen einer Panne vor Jahren sich selbst überlassen wurde. Den Fahrweg, den es hier einmal gab, hat die Natur längst zurückerobert.
Chris beschliesst, dass der Bus sein Zuhause wird. Der junge Amerikaner ist am Ziel angelangt. Er richtet sich im Innern des verrosteten Fahrzeugs notdürftig ein und geht auf die Jagd. Mit einem Kleinkalibergewehr gelingt es ihm in den nun folgenden Tagen und Wochen, gelegentlich kleine Tiere zu schiessen. Doch er hat sich das alles zu leicht vorgestellt. Der Hunger ist grösser als seine kärgliche Beute, und auch als der Schnee zu schmelzen beginnt, findet er nicht genug Nahrung. Das mitgebrachte Survival-Handbuch ist ihm keine wirkliche Hilfe. Der Aussteiger aus Washington D.C. kennt sich mit Pflanzen zu wenig aus. Hilflos steht er mitten in der rauen Natur. Ihre überwältigende Schönheit, von der er doch immer geträumt hat, bekommt etwas Abweisendes. Selbst bei Sonnenschein stösst sie ihn auf sich selbst zurück.
Nach drei Monaten gibt er auf. Er will zurück. Zurück zu den Mitmenschen. Der Hunger zehrt an ihm, doch vor allem die Einsamkeit. Christopher, der junge Akademiker mit Abschlüssen in Geschichte und Anthropologie, hat sich erhofft, in der Wildnis Alaskas einen Sinn für sein Leben zu finden – nun sucht er bloss noch den Rückweg. Doch der Fluss, der ihm den Weg versperrt, führt in der Schneeschmelze soviel Wasser mit sich, dass ihn Chris nicht durchqueren kann. Enttäuscht und verzagt kehrt er zu seinem Bus zurück.
Hätte er eine richtige Karte bei sich gehabt, dann hätte er wissen können, dass nur wenige Kilometer weiter flussabwärts eine Art Brücke über den Fluss führt. Doch Christopher wollte seinen Weg radikal gehen und sich der Wildnis ohne Koordinaten aussetzen. Er war überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Eine innere Stimme hatte er nicht vernommen. Gibt es nicht immer eine innere Stimme, die ihre Zweifel äussert? Chris wollte sie gar nicht hören.
Abgemagert bis auf die Knochen wartet er ab, bis er den Fluss, das Hindernis, das ihn vom Leben trennt, überwinden kann. Auf der immer verzweifelteren Suche nach Nahrung stösst er auf Pflanzen, die er für essbar hält. Doch ihr Verzehr lässt ihn erkranken. Bald wird er so schwach, dass er es nicht mehr schafft, aufzustehen. Entkräftet auf seinem Lager liegend, hofft er vergeblich auf Rettung.
Er stirbt den einsamsten Tod, den man sich denken kann.
Wenige Wochen später stossen Jäger auf den toten Vermissten in seinem Bus. Auch sein Tagebuch finden sie. Der Sterbende hat es bis zuletzt nachgeführt. Aus dem, was er schrieb, geht hervor, wie unglücklich er am Ende gewesen sein muss. Er hatte so sehr gehofft, das Glück in Alaska, einem Goldsucher gleich, entdecken zu können. Doch der Sinnsucher musste erkennen, dass er eine falsche Vorstellung davon hatte, was Glück ist.
Dem Tode nahe notierte er ganz zum Schluss: Happiness is only real when shared. Glück ist nur echt, wenn man es teilt.