Was will der Frieden von mir? Journalismus in Zeiten der Echokammern
Erich Kästner und Kurt Tucholsky versuchten vor knapp 100 Jahren - angesichts von Bücherverbrennung und drohendem Weltkrieg –, mit der Schreibmaschine eine Katastrophe zu verhindern. Spätere Generationen versuchen es mit Objektivität. Heutige mit Fasten. Kolumne.
Als Kind musste ich in der Fastenzeit auf alles Süsse verzichten. Sechs Wochen lang! Eine Ewigkeit. Doch hinterher war ich richtig stolz auf mich. Da Süssigkeiten nicht mehr diese Bedeutung für mich haben, beschliesse ich eine eine andere Fastenzeit für mich: eine Fastenzeit der Negativität! Auch im Journalismus. Moment – heisst das, nur noch positive Nachrichten zu bringen? Hmmm.
Positiver zu schreiben, wurde schon von Erich Kästner gefordert. Seine Antwort 1930 war ein Gedicht:
Und immer wieder schickt ihr mir Briefe,
in denen ihr, dick unterstrichen, schreibt:
«Herr Kästner, wo bleibt das Positive?»
Ja, weiss der Teufel, wo das bleibt.
Als Autor der legendären «Weltbühne» wurde Kästner Zeuge der Verbrennung seiner Bücher. Er erlebte die Machtergreifung der Nazis, überlebte die Verfolgung von Andersdenkenden und den schier unaufhaltsamen Weg in den Krieg. Immer die Grenzen auslotend zu dem, was gerade noch geduldet wurde, beschränkte er sich schliesslich aufs Kinderbuch- und Spielfilm-Schreiben. Andere Nazikritiker – wie sein Weltbühne-Kollege Kurt Tucholsky – verliessen Deutschland. Freiheit war ihnen wichtiger, als in der Heimat zu bleiben.
Ich fand Tucholsky immer den grösseren Helden. Er liess sich keinen Millimeter weit vereinnahmen, schrieb mit beissendem Sarkasmus gegen Kirche, falsche Moral und Vaterland.
«Nichts ist schwerer
und nichts erfordert mehr Charakter,
als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden
und laut zu sagen: Nein.»
Das bezahlte der ursprünglich lebensfreudige Mann und leidenschaftliche Liebhaber des Berliner Nachtlebens mit Einsamkeit und Verzweiflung – er brachte sich im Exil um. Sein Freund Erich Kästner sagte nach dem Krieg liebevoll über ihn: «Ein kleiner dicker Berliner wollte mit der Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten.»
Guter Journalismus misst sich nicht daran, ob seine Nachrichten positiv oder negativ sind. Sondern ob er «sagt, was ist». So sagte es jedenfalls Rudolf Augstein, eine Ikone des deutschen Journalismus.
Nur wissen wir spätestens seit der Quantenphysik: Wahrheit ist relativ. Die Perspektive, aus der ich etwas betrachte – meine Zugehörigkeit, meine bisherigen Erfahrungen, meine innere Ausrichtung – prägt meine Wahrnehmung. Sie lässt mich das Wahrgenommene interpretieren. Und irgendwann prägt das, was wir sehen wollen, das, was wir sehen. Meinungen werden nicht mehr durch Fakten, sondern Fakten durch Meinungen bestimmt.
So entstehen Echokammerwelten, die immer weiter auseinander driften. Die Medien verstärken diesen Prozess, vor allem soziale Medien. Und driften ist dabei ein viel zu friedliches Wort für das vehemente Nicht-Verständnis, mit der sich die Kammer-Insassen gegenüberstehen.
Wie kann Journalismus heute helfen, den Diskurs wieder zu öffnen?
Journalisten sollten darüber stehen – wird gefordert. Also über den Narrativen der jeweiligen Echokammern. Sie sollten neutral sein und sich «nicht gemein machen, auch nicht mit etwas Gutem.» Das forderte eine deutsche Journalismus-Ikone, Hans-Joachim Friedrichs.
Ich glaube allerdings, im Journalismus gilt das alte Lied: Wes Brot ich esse, des Lied ich sing. Wer den Journalismus bezahlt, bestimmt seine Haltung.
Ich möchte jedenfalls auch Friedrichs widersprechen. Die von ihm geforderte Objektivität habe ich so nie so empfunden. Ich bin nicht neutral – ich lebe! Ich habe Herz und Verstand. Also solche habe ich auch ein Anliegen: Es ist mir nicht egal, was aus der Welt wird, aus der Zukunft, auch nicht in der Ukraine. Ich habe eine Absicht: Ich will Frieden. Und dieser Friede will etwas von mir. Wenn ich ganz still werde, verstehe ich es: Er will, dass ich an ihn glaube. Er will, dass ich glaube, dass er möglich ist.
Und das ist meine Fastenzeit: Ich bleibe bei dieser Gewissheit und dem Wunsch. Ich wähle sie als Bezugspunkt für alles, über das ich berichte. Ich verzichte auf das Bedienen von Sensationsgier. Auf die schnellen Schlussfolgerungen. Ich will keine Nachricht beschönigen – aber lasse mich nicht auf den Weltuntergang einschiessen. Ja, unsere derzeitige Lebensweise ist am Untergehen, und mit ihr enden viele schöne Dinge. Aber gibt es immer noch viele Gründe, alles für einen Neuanfang zu tun.
Ein Neuanfang ist nicht so donnernd wie ein fallender Baum – sondern manchmal so alltäglich und so sensationell wie keimendes Gras. Unsere Aufgabe als Journalisten ist, auf all die Graskeimlinge hinzuweisen – und zu zeigen, dass sie Teil eines kommenden Frühlings sind.
Um es ein wenig prosaischer zu sagen: Wir fokussieren in der besten Tradition des Friedensjournalismus auf Perspektiven und Lösungen. Schreiben Sie mir alles, was Sie dazu finden – Informationen über Treffen, Gedanken, Aktionen, Gruppen und Einzelpersonen.
Übrigens finde ich, Kinderbücher zu schreiben nichts Sinnloses. Kästners Bücher waren als Kind für mich wichtige Orientierungen zu Anstand und echter Moral. Nicht nur zur Fastenzeit.
von:
Über
Christa Leila Dregger
Christa Dregger-Barthels (auch unter dem Namen Leila Dregger bekannt). Redaktionsmitglied des Zeitpunkt, Buchautorin, Journalistin und Aktivistin. Sie lebte fast 40 Jahren in Gemeinschaften, davon 18 Jahre in Tamera/Portugal - inzwischen wieder in Deutschland. Ihre Themengebiete sind Frieden, Gemeinschaft, Mann/Frau, Geist, Ökologie.
Weitere Projekte:
Terra Nova Plattform: www.terra-nova.earth
Terra Nova Begegnungsraum: www.terranova-begegnungsraum.de
Gerne empfehle ich Ihnen meine Podcast-Reihe TERRA NOVA:
terra-nova-podcast-1.podigee.io.
Darin bin ich im Gespräch mit Denkern, Philosophinnen, kreativen Geistern, Kulturschaffenden. Meine wichtigsten Fragen sind: Sind Menschheit und Erde noch heilbar? Welche Gedanken und Erfahrungen helfen dabei?
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