Wenn die Politik depressiv macht
Selbsthilfegruppen in Basel üben die Befreiung und helfen den Teilnehmern, wieder für etwas gut zu sein.
Das Muster wiederholt sich: Menschen, denen es schlecht geht, ziehen sich zurück. «Wir verlieren sie, sehen sie nie oder für lange Zeit nicht wieder», sagt Sara, eine der MitorganisatorInnen einer Sitzungsreihe zu depressiven Erfahrungen im widerständigen Alltag.
Unter dem Titel «Good for nothing» fanden in Basel im vergangenen Herbst drei Abende statt, in denen die politischen Dimensionen von Depressionen diskutiert wurden. Schilderungen von Betroffenen wechselten sich ab mit Plenumsrunden. Rund 30 Personen fühlten sich angesprochen – die meisten aus der linken Bewegung, einige ohne eigene depressive Erfahrungen.
Mit Sara am Tisch sitzt Luzian, der die politische Dimension der Depression an seinem eigenen Beispiel erläutert: «Lange Zeit habe ich meine depressiven Erfahrungen nicht mit gesellschaftlichen Normen, Rollenbildern, Männlichkeitsfragen oder Geschlechterverhältnissen in Verbindung gebracht. Es war mein Ding, mein Leid, mein Unvermögen.»
Mit etwa 18 Jahren erfuhr Luzian eine Welle der Politisierung. Er begann ökonomische Grundlagen zu hinterfragen, stellte sich Fragen über Gleichheit und Gerechtigkeit. Eine Verbindung zu seinen eigenen depressiven Erfahrungen machte er jedoch nicht. «Ich konnte mir grösstmögliche, positive Veränderungen in der Gesellschaft vorstellen, meine depressiven Phasen aber, so meine Überzeugung damals, würden mich weiterhin begleiten. Sie hatten nichts damit zu tun.»
Ein Text des Schriftstellers Mark Fisher mit dem Titel «Good for nothing» aus dem Jahr 2014 löste bei Luzian ein Umdenken aus. Fisher lehnt darin die kapitalistische Doktrin ab, dass jeder seines eigenen Glücks Schmieds sei, und fragt: Was ist möglich, wenn depressive Erfahrungen nicht länger ausschliesslich als persönliches Versagen betrachtet werden, sondern als Folge gesellschaftlicher Machtungleichheiten?
Wenn gesellschaftliche Machtungleichheiten mindestens teilweise verantwortlich für depressive Zustände sind, können diese dann nicht auch als Ressource für politisches Handeln gegen diese Machtverhältnisse dienen?
Der Fokus weg vom eigenen Unvermögen, hin zur Hinterfragung des politischen Systems, liess die Veranstalterinnen vermuten: Wenn gesellschaftliche Machtungleichheiten mindestens teilweise verantwortlich für depressive Zustände sind, können diese dann nicht auch als Ressource für politisches Handeln gegen diese Machtverhältnisse dienen? In diesen Überlegungen sahen sie einerseits eine Grundlage, sich von depressiven Gedanken zu distanzieren, und andererseits eine Möglichkeit, daraus Energie für politisches Engagement zu ziehen. «Zudem könnte dadurch mitten in einer hyperindividualisierten Welt ein tragfähiges soziales Netz entstehen», so Luzian.
Aus den Sitzungen bildeten sich Selbsthilfe- und Unterstützungsgruppen, die sich regelmässig treffen und vielen bei der Bewältigung ihrer depressiven Phasen helfen. «Wir helfen uns bei der Bewältigung unserer depressiven Phasen, beim Erkennen der Ursachen und beim Kampf gegen diese systemisch bedingten Machtungleichheiten, die uns das Gefühl vermitteln, good for nothing zu sein», sagt Sara. Dabei ist nicht zuletzt die Enttabuisierung depressiver Erfahrungen wichtig. Verschwinden kann heissen, dass sich die Betroffenen zu Hause verkriechen, wie es Fisher schildert. Ein Verschwinden ist aber auch in der Psychiatrie möglich. Eine der Grundgedanken der «good for nothing»-Sitzungen besteht darin, Menschen mit depressiven Phasen in der Gesellschaft zu halten und gemeinsam Einfluss auf diese zu nehmen.
Fisher hat sich 2017 das Leben genommen. Daraufhin hat der Autor David Doell einen Text mit dem Titel «Good for something» geschrieben, welcher der Gruppe als Diskussionsgrundlage in der zweiten Sitzung diente. Doell reflektiert dort Fishers Verständnis von Depressionen als Folge gesellschaftlicher Machtungleichheiten und schlussfolgert in etwas umständlicher, aber eindringlicher Art: «Ich glaube, dass es etwas Wunderbares wäre, (...) das Leistungsparadigma in all seinen Facetten zu demolieren, sich in seiner Sprachlosigkeit zu unterstützen und auch in sozialen Relationen auf den Bruch oder die Brüche mit allen gesellschaftlichen Verhaltensweisen zu orientieren, in denen Menschen geknechtet, erniedrigt und deprimiert werden.»
Sara bestätigt, dass Leistungsdruck bei den Treffen überdurchschnittlich oft genannt wird: «Dieser ist nicht nur die Folge von steilen Karriereleitern, sondern kann auch in der aktivistischen Arbeit gefunden werden.» Es seien auch dort oft die leistungsfähigsten Menschen, die das Tempo bestimmen würden. «Davon», sagt Luzian, «gilt es sich gemeinsam zu emanzipieren».
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