Wer darf Gewalt anwenden?
Seit der Abkehr der USA von der Bewaffnung der Ukraine gegen Russland ist Europa noch mehr als bisher im Aufrüstungswahn. Die Samstagskolumne.
So als sei es natürlich, Angriffe von Nachbarn nur dadurch verhindern zu können, dass man sich mit Schusswaffen ausrüstet. ... Foto: Unsplash
So als sei es natürlich, Angriffe von Nachbarn nur dadurch verhindern zu können, dass man sich mit Schusswaffen ausrüstet. ... Foto: Unsplash

Schon die vergangenen Jahre gab es weltweit Aufrüstung, Jahr für Jahr ansteigend. Nun sieht es so aus, als würden Russland und die USA gegenseitig deeskalieren und vielleicht sogar abrüsten, um Kosten zu sparen, auch wenn die Verträge noch nicht in trockenen Tüchern sind.

Währenddessen will die EU entschiedener denn je aufrüsten gegen Russland, vor allem die neue deutsche Regierung unter Friedrich Merz sieht darin einen historischen Auftrag und bringt ein neues «Sondervermögen» von 200 Milliarden für die Aufrüstung ins Gespräch, neudeutsch für weitere Schulden. Diese sollen «am Kapitalmarkt» aufgenommen werden, d.h. bei den Vermögenden, die ja schon immer von Kriegen profitierten. Was mich an Frank Zappas Aussage erinnert: «Politics is the entertainment division of the military industrial complex» – Politik ist die Unterhaltungsabteilung des militärisch-industriellen Komplexes.

Armutsbekämpfung, Fluchtbewegungen, Klimawende, die diversen Kipppunkte des Biotops, die Bedrohung durch KI sind im Aufrüstungswahn gegen den bösen Feind im Osten nur noch Nebenthemen. Hauptsache «wir» haben genug Militär, um abschrecken zu können.

Dabei geht das konventionelle Denken davon aus, dass ein Land ein Militär haben müsse, um sich vor Angriffen seiner Nachbarn schützen zu können – als sei dies das Selbstverständlichste der Welt. Länder wie Island und Costa Rica, die kein Militär haben, werden dabei als Kuriositäten gehandelt. Die dann, wie im Fall von Island, «natürlich» eine «Schutzmacht» bräuchten. So als sei es natürlich, Angriffe von Nachbarn nur dadurch verhindern zu können, dass man sich mit Schusswaffen ausrüstet.

Innerhalb eines Landes hingegen wird es keineswegs als normal empfunden, sich vor Räubern und Mördern durch eigene Bewaffnung schützen zu müssen. Da verzichten wir auf die sogenannte «Selbstjustiz», vertrauen die Aufgabe des Schutzes vor Angreifern der Polizei und der staatlichen Justiz an und geben der Polizei das Gewaltmonopol: Nur die speziell dafür ausgebildete und eine gut erkennbare, weil Uniform tragende Polizei darf Gewalt ausüben. 
Dass einzelne Menschen ebenso wie Menschengruppen und ganze Völker manchmal ausrasten und dann gewalttätig werden, ist seit Menschengedenken so. Innerhalb der Staaten wird die Aufgabe des Schutzes vor solchen Ausrastern der Polizei und Justiz anvertraut.

Warum nicht auch zwischen den Staaten? Militär wäre dann nicht mehr nötig. Für den friedlichen Umgang der Staaten untereinander bräuchten wir eine «strafbewehrte» Regelung zwischen den Staaten, die deren friedlichen Umgang miteinander gewährleistet und Annexionen verhindert. Der Wunsch nach Sezessionen wie etwa in Katalonien, Schottland, der Krim oder dem Donezbecken würden dann einem demokratischen Votum überlassen. 
Auch neue Grenzziehungen wären dann friedlich möglich. In so vielen Fällen sind die aktuell geltenden Grenzen ja von Kolonialmächten und gegen den Willen der dort lebenden Menschen gezogen worden, ich will hier nur auf Afrika und Kurdistan als Beispiele verweisen, es gibt viele weitere.

Das Gewaltmonopol der Polizei diente oft der Aufrechterhaltung einer herrschenden Klasse, Dynastie, Oligarchie oder Autokratie. Es gibt deshalb in vielen Fällen gute Gründen für Misstrauen gegen eine bestehende Polizei. Beispielsweise agieren grosse Teile der US-Polizei rassistisch, obwohl die dortigen Gesetze seit Martin Luther King im Wesentlichen nicht mehr rassistisch sind.

Grundsätzlich kann jedoch eine gut ausgebildete, sozial kompetente Polizei in Kooperation mit einer unbestechlichen Justiz für immens viel mehr zwischenmenschliche Sicherheit sorgen, als wenn sich jeder gegen jeden selbst bewaffnen würde. Dann würden vor allem Mafia und Milizen herrschen, gegen die ein Einzelner nicht ankann.

Warum gibt es bisher keine solche Regelungen zwischen den Staaten? Der Völkerbund und die UNO, entstanden nach den beiden Weltkriegen, waren Versuche, solche auch zwischen den Staaten einzuführen. Beide Ansätze blieben jedoch weitgehend erfolglos. Auch heute noch regiert zwischen den Staaten das «Recht des Stärkeren». Das heisst, wer das stärkere Militär hat, kann seine Nachbarn erpressen, bei ausreichender Stärke auch in einem Krieg besiegen, ein anderes Land gegen dessen Willen annektieren, es zu einem tributpflichtigen Vasallen machen oder wirtschaftlich ausbeuten und sich dabei als seine Schutzmacht darstellen.

Warum wird das doch innerstaatlich so erfolgreiche Projekt des Gewaltmonopols einer Polizei, die von einer unabhängigen Justiz kontrolliert wird, nicht auch zwischenstaatlich angewandt? Es spart doch so viel Kosten und schafft so viel mehr Sicherheit. Als Einwand gegen eine solche Regelung höre ich Befürchtungen wie diese: Würdest du denn einer solchen Weltregierung trauen? Oder auch: Stell dir vor, Big Brother regiert die Welt oder eine faschistische Regierung, und du würdest zum Staatsfeind erklärt. Wohin könntest du dann noch fliehen?

Andererseits ist es auch heute schon so, dass Einzelne vor Grossmächten kaum fliehen können. Osama bin Laden wurde von den USA in Pakistan aufgegriffen und ohne Gerichtsverfahren hingerichtet. Auch Kritiker Russlands wurden vom KGB im Ausland aufgegriffen und ermordet. Ebenso wurden Feinde und Kritiker Israels vom Mossad im Ausland aufgegriffen und ermordet, obwohl Israel nur eine regionale Grossmacht ist.

Whistleblowern wie Edward Snowden oder Julian Assange erging es kaum besser. Es ist also auch heute schon so, dass man vor der Polizei oder dem Geheimdienst einer Grossmacht nicht fliehen kann.

Damit eine Weltregierung nicht terrorisiert, sondern Frieden schafft, wäre es nötig, das Montesquieu´sche Prinzip der Gewaltenteilung auch international umsetzen. Es bräuchte in einer föderal und subsidiär (d.h., was lokal lösbar ist, wird lokal entschieden) organisierten Welt eine demokratisch legitimierte Weltregierung, die von einer unbestechlichen Justiz kontrolliert wird. Eine solche Regierung müsste einer Polizei das Gewaltmonopol erteilen, die stärker bewaffnet ist als jede Mafia oder Miliz, aber auch nicht stärker als nötig. Militär würde dann nirgendwo auf der Welt mehr gebraucht, um ein Land vor Angriffen zu schützen.

Mir ist bewusst, dass eine solche Regelung noch viel mehr Ausarbeitung im Detail braucht. Deshalb vielleicht als erstes das: ein Aussteigen aus der Denkgewohnheit, dass ein Souveränität beanspruchendes Land ein Militär braucht. Die meisten Pazifisten sind ja keineswegs naiv, etwa im Sinne eines Anarchismus, der von einer Welt ohne Herrschaft und ohne Waffen träumt. Es dürfte auch klar sein, dass Polizisten Fehler machen, Sicherheitskräfte oft genug Schrecken verbreitende Unsicherheitskräfte sind und Richter bestechlich sein können. Im Bewusstsein, dass solches Fehlverhalten nie völlig vermeidbar ist, kann das Gewaltmonopol einer Polizei gegenüber der Selbstjustiz und dem Recht des Stärkeren zivilisatorisch als Erfolgskonzept betrachtet werden.

Die Weltgemeinschaft, die durch das Internet bereits enger verbunden ist als je, könnte die Abrüstung Schritt für Schritt umsetzen. Vielleicht beginnend mit den ABC-Waffen. Als nächstes Minen, Streumunition und Uranmunition. Dann immer weiter auch konventionelle Waffen, Drohnen, Kriegführung übers Internet und durch KI. Schliesslich auch die psychologische Kriegführung durch Massenbeeinflussung für hegemoniale und andere unwillkommene Zwecke.

Ist das möglich? Solange es noch undenkbar ist, gewiss nicht. Fangen wir also damit an, uns einen solchen Weg zum Frieden schon mal auszudenken.

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