Das Ganze wird erst Frieden finden, wenn die Ausgestossenen wieder integriert sind, wenn die schwarzen Schafe zurück und die Verletzungen geheilt sind, die wir uns gegenseitig zugefügt haben. Die Samstags-Kolumne.

Friede auf Erden. Foto: Monstera Production

Es war einmal ein Bösewicht. Nachdem er durch die Guten besiegt worden war, bekam die Welt ein anderes Gesicht. Internationale Unternehmen und Organismen versprachen, den Menschen das zu geben, was sie wollten: Frieden, Wohlstand, Gesundheit, Sicherheit. Je globaler, desto besser, je mächtiger, desto fortschrittlicher. So sollte der Welt garantiert werden, was ihr sehnlichster Wunsch war: Nie wieder Krieg!

Was so märchenhaft begann, nahm kein gutes Ende. Mehr Menschen denn je sind heute auf der Flucht vor Elend, Verfolgung, Menschenrechtsverletzungen und Krieg. Mehr als 340 Millionen Menschen wissen aktuell nicht, woher die nächste Mahlzeit kommen soll. Schuld daran seien immer noch einzelne Bösewichte, die die besten Absichten durchgrätschen und die Welt daran hindern, eine bessere zu werden.

Während uns vor Augen gehalten wird, welche Macht der Einzelne haben kann, schauen wir dorthin, wo wir nichts ausrichten können. Gebannt starren wir auf Probleme, die andere vorgeben, für uns zu lösen. Anstatt uns auf die eigene Kraft zu besinnen, pflegen wir unsere Feindbilder und schiessen auf die, von denen wir glauben, sie stünden unserem Frieden entgegen. «Er hat angefangen», höre ich. «Sollen wir uns von ihm alles gefallen lassen?»
 

Tabula rasa

Unbeirrt zeichne ich meine Visionen von einer friedlichen Welt, in der für alle Platz ist. «Es hat schon immer Kriege gegeben. So war es und so wird es bleiben.» Während die Optimistischeren den nachwachsenden Generationen noch eine Chance lassen, sind die Pessimisten davon überzeugt, dass wir es nicht besser verdienen, als so schnell wie möglich wieder vom Erdboden zu verschwinden.

So wird den Machern einer transhumanen Welt eine Spielwiese bereitet, auf der sie sich hemmungslos austoben können. «Wir sind zu viele.» «Der Mensch ist von Grund auf schlecht.» Wenn das so ist, dann ist es geradezu eine Tugend, uns abzuschaffen. Ohne Bedenken kann man uns sterilisieren und umprogrammieren. Man kann uns Substanzen einspritzen, die unser Erbgut verändern. Man kann unseren Kindern ein neues Geschlecht aufschwatzen, bevor sie die Geschlechtsreife erreichen, und uns mit einer neuen Sprache und Verhaltensregeln so verwirren, dass wir nicht mehr wissen, wer wir eigentlich sind.

Die transhumanistische Vision braucht Verwirrung. Sie braucht Menschen, die durch Angst gefügig gemacht werden und sich gegeneinander aufhetzen lassen, Informationsfluten, die sich widersprechen, Politiker, denen jede Kohärenz fehlt, und Ampeln, die alles durcheinanderbringen. Vor allem aber braucht sie ein negatives Menschenbild und die Bereitschaft möglichst vieler, vor der eigenen Macht und Verantwortung die Augen zu verschliessen.

 

Am Scheideweg

So kann eine tabula rasa geschaffen werden, auf der der Welt ein neuer Mensch aufgetischt wird. Wie dieser Mensch aussehen wird, das liegt an uns. Lassen wir uns entmenschlichen, entkernen, vom Wesentlichen abbringen? Oder werden wir ganz Mensch, uns dem bewusst, was uns einmal in die Wiege gelegt wurde: unsere Schöpferkraft? Nutzen wir das aktuelle Chaos, um uns abwickeln zu lassen, oder greifen wir zu und nutzen die gewaltige Kraft, die in jedem Einzelnen von uns steckt?

Erkennen wir die Dinge in ihren Zusammenhängen oder verlieren wir uns im Detail? Wofür entscheiden wir uns? Halten wir an unseren Feindbildern fest oder machen wir uns daran, die Verletzungen in uns zu heilen, die den Weg in den Frieden blockieren? Geben wir dem Teufelskreis Schwung, in dem aus Opfern immer wieder neue Täter werden, oder begiessen wir die Pflanze des Friedens?
 

Menschheitsfamilie

«Seit 2000 Jahren höre ich», so schrieb der irische Dichter George Bernard Shaw, «dass man mit der Bergpredigt nicht regieren könne. Aber so versucht es doch — wenigstens einmal!» Das möchte ich vor denen wiederholen, die eine friedliche Welt für unmöglich halten. Hört doch wenigstens einmal richtig zu. Was hält euch davon ab, es zu versuchen? Warum behindert ihr diejenigen, die sich in diesem Sinne engagieren, anstatt sie mit euren Gedanken, Worten und Gesten zu unterstützen?

Warum ziehen wir nicht alle an einem Strang? Wir sind eine Familie. Was auch immer jemand getan hat: Er gehört dazu. Das Ganze wird erst Frieden finden, wenn die Ausgestossenen wieder integriert sind, wenn die schwarzen Schafe zurück sind und die Verletzungen geheilt, die Wunden, die wir uns gegenseitig zugefügt haben.

Zu diesem Ziel gelangen wir nur auf friedliche Weise. Frieden ist nicht das Ziel, sondern der Weg. Der Weg wird lang sein. Schliesslich haben wir Tausende von Jahren damit verbracht, uns voneinander zu entfernen. Doch zu unseren Füssen können wir das Wunder erkennen, dass es möglich ist, wieder zusammenzufinden. Der Samen ist gelegt.

Die zarte Pflanze schafft es, den harten Asphalt zu durchdringen. Verrückt oder weise? Sie fragt es sich nicht. Vertrauensvoll folgt sie einer höheren Ordnung und bahnt sich ihren Weg.

Über

Kerstin Chavent

Submitted by cld on Mi, 05/17/2023 - 22:38
Kerstin Chavent

Kerstin Chavent lebt in Südfrankreich. Sie schreibt Artikel, Essays und autobiographische Erzählungen. Auf Deutsch erschienen sind bisher unter anderem Die Enthüllung,  In guter Gesellschaft, Die Waffen niederlegen, Das Licht fließt dahin, wo es dunkel ist, Krankheit heilt und Was wachsen will muss Schalen abwerfen. Ihre Schwerpunkte sind der Umgang mit Krisensituationen und Krankheit und die Sensibilisierung für das schöpferische Potential im Menschen. Ihr Blog: „Bewusst: Sein im Wandel“.