Zivilcourage und Selbstverleugnung
Vier junge Schweizer Fechter legen sich mit dem Mainstream an. Und knicken ein. Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben»
«Jetzt kann sie nichts mehr von ihrer Entschlossenheit abbringen» (Bild Netzfund)
«Jetzt kann sie nichts mehr von ihrer Entschlossenheit abbringen» (Bild Netzfund)

Vier junge Schweizer Fechter, die ihrem Sport mit grosser Leidenschaft zugetan sind, erreichen an den Europameisterschaften für unter 23jährige in der Kategorie Degenfechten den Einzug in den Final. Im entscheidenden Kampf um die Goldmedaille steht ihnen das Team aus Israel gegenüber. Da die vier Schweizer nicht nur Sportler, sondern auch junge, am Zeitgeschehen interessierte Bürger sind, kommen sie in den Gesprächen vor dem Final darauf zu sprechen, dass ihre israelischen Gegner einen Staat repräsentieren, der im Gaza-Streifen seit eineinhalb Jahren Tag für Tag Männer, Frauen und Kinder tötet, sodass die Zahl der Toten auf bereits über 50 000 gewachsen ist.

Das tägliche Töten, dem das palästinensische Volk in Gaza ohnmächtig ausgesetzt ist, empört Millionen von Menschen überall auf der Welt. Es empört auch unsere Fechter, so wie jedes Unrecht junge Menschen betroffen macht. Und so entsteht die Idee, den Final zu nutzen, um ein Zeichen gegen das Töten zu setzen. Unabhängig davon, ob sie gewinnen werden.

Dem Entschluss geht eine heftige Diskussion voraus. Versuchen wir sie uns vorzustellen: Einer von ihnen hat die Idee gehabt, ein zweiter schliesst sich ihm an, der dritte ist unentschlossen, der vierte dagegen. Was der vierte sagt, lässt auch die anderen zögern. Politik, findet er, gehört nicht in den Sport. Und er gibt zu bedenken: Wir vertreten die Schweiz. Die Schweiz ist neutral. Dann müssen auch wir es sein.

Doch die Entschlossenen in der Gruppe kontern mit der moralischen Pflicht, nicht schweigen zu dürfen. Zu gross sei das Leid der Menschen in Gaza. Schliesslich obsiegt die Moral über die Zweifel. Alle vier beschliessen gemeinsam, Zivilcourage zu zeigen. Das Wenige, das sie tun können, wollen sie tun. Auch wenn sie verlieren. Aber sieht es dann nicht so aus, als würden sie den Israeli den Sieg nicht gönnen? Damit wollen sie leben. Ihr Glaube an ihre Mission überstrahlt inzwischen alle Bedenken.

Tatsächlich unterliegen sie im Final dem israelischen Team mit 34 zu 45 Punkten. Sie schlucken die Niederlage enttäuscht, aber sportlich und schütteln ihren siegreichen Gegnern, wie es der Brauch will, die Hand. Den Israeli zu gratulieren, ist für sie keine Frage. Denn in diesem Moment geht es nur um den Sport. Um den Respekt gegenüber dem Gegner.

Vor der Siegerehrung wechseln sie letzte, vergewissernde Blicke. Ihre Augen sprechen sich Mut zu. Die vier jungen Fechter sind Sportler, keine Politaktivisten. Sie haben noch nie so etwas gemacht. Aber sie können fechten. Und wer fechtet, der wagt etwas. Der ist ein Kämpfer.

Dann stehen sie nebeneinander auf dem Podest. Jetzt kann sie nichts mehr von ihrer Entschlossenheit abbringen. Und als die israelische Hymne ertönt, als sich die Fechter aus Israel ihrer Flagge zuwenden und die Gewinner der Bronzemedaille, die Italiener dasselbe tun, bleiben die Schweizer, geradeaus blickend, unverwandt stehen.

Was unmittelbar danach, in der Halle der Siegerehrung geschah, wissen wir nicht. Aber noch am gleichen Tag verbreitete sich ein Video der Protestaktion, und es hagelte Reaktionen auf allen Kanälen. Die meisten Kommentare erkannten glasklar, dass es sich um eine Kritik an Israel handelte, und sie verurteilten die politische Stellungnahme im Sport. Es gab auch Stimmen, die den Mut der vier jungen Schweizer lobten, aber das half ihnen wenig. Der Mainstream braucht Futter, um die Masse bei Laune zu halten, und die freche Aktion der Fechter war dafür bestens geeignet.

Als Erster meldete sich der Trainer der israelischen Siegermannschaft zu Wort. Er zeigte sich vom Verhalten der Schweizer «enttäuscht» und beklagte, dass «ein Moment des sportlichen Triumphs zu einer Plattform für politische Feindseligkeiten» geworden sei.

Auch Stimmen aus Israel selbst kritisierten die Fechter – und vollends globale Wichtigkeit erreichte der Vorfall, als sogar Israels Aussenminister den Medien diktierte: «Schande über das Schweizer Team. Ihr wisst nicht, wie man verliert und habt euch eurem Land gegenüber peinlich präsentiert.»

Spätestens jetzt sah sich der Schweizer Fechtverband zu einer Stellungnahme genötigt: «Swiss Fencing hat kein Verständnis dafür, dass sein Team die Siegerehrung für eine politische Manifestation missbraucht hat.» Der Verband äusserte sein Bedauern, «dass durch das falsche Verhalten unserer Athleten der sportliche Erfolg diskreditiert wurde». Man werde das Gespräch mit der Mannschaft suchen und dann über allfällige Massnahmen entscheiden.

Bereits war das böse Wort von den «Massnahmen» ausgesprochen. Wie ein Damoklesschwert hing es über den schuldig Gesprochenen. Aber haben denn Fechter Angst vor Schwertern, wissen sie nicht damit umzugehen?

Nein, sie wissen es nicht, denn sie sind jung und sportlich ambitioniert, und wenn ihr Verband ihnen droht, dann sind dieselben, die sich gerade noch kämpferisch gaben, verunsichert, dann wird ihr Verband zur erwachsenen Autorität und sie sind die Kinder, die zu gehorchen haben.

Wieder müssen sich die vier auf eine gemeinsame Haltung einigen. Sie wissen, dass sie sich äussern müssen. Aber diesmal stehen sie unter Druck, und der Druck ist bedrohlich. Die Medien des Mainstreams können zu Höllenhunden mutieren, die dich hetzen und in die Enge treiben, bis du irgendwann einknickst. Und wenn du dich ihnen entziehen kannst, bist du Freiwild. Dann brauchst du wirklichen Mut.

Wir wissen nicht, ob wenigstens einer der jungen Fechter seine Fechtkameraden davon überzeugen wollte, den Druckversuchen zu widerstehen. Doch selbst wenn er es tat – die anderen überstimmen ihn. Auf Instagram publiziert das Schweizer Team seine Stellungnahme. Die Fechter schreiben:

Während der Hymne haben wir uns nicht der Fahne des israelischen Siegerteams zugewandt. Das hatte keinen politischen Hintergrund und hatte nichts mit einer Missachtung Israels zu tun. Es handelte sich um eine persönliche Geste, entstanden aus unserer Trauer und unserer Empathie mit Blick auf das grosse menschliche Leid der Zivilbevölkerung, von dem in diesem Konflikt alle Seiten betroffen sind. Während der Medaillenfeier wurden wir aufgrund der Situation, die zu erfassen uns alle überfordert, von unseren Emotionen übermannt.

Waren sie nicht empört? Und war ihr Protest nicht klar gegen Israel gerichtet, das den Blutzoll der Hamas mit dem Fünfzigfachen vergolten hat und nicht ruhen wird, ehe der letzte Palästinenser vernichtet oder aus seiner Heimat vertrieben ist?

Jetzt, in der Stellungnahme der Fechter, sind auf einmal «alle Seiten betroffen», als wäre das israelische Leid und das Leiden der Palästinenser auch nur im geringsten dasselbe. Und aus der gewollten, unmissverständlichen Demonstration während der Siegerehrung sind blosse «Emotionen» geworden, von denen die «überforderten» jungen Sportler willenlos «übermannt» wurden.

Die vier jungen Schweizer kriechen zu Kreuze. Sie machen sich klein und schwach, stellen sich dar als unreife Bübchen, die ihre Gefühle nicht unter Kontrolle haben, und hoffen auf erwachsenes Mitgefühl. Aber sie wissen, dass das noch nicht genügt. Der Mainstream will mehr. Er will Distanzierung. Er will, dass die Schuldigen Abbitte leisten. Wie es die Kommunisten gehalten haben: Wer nicht linientreu war, musste öffentlich Selbstkritik üben.

Deshalb schreiben die Fechter, was ihre Richter hören wollen:

Wir erkennen, dass unsere Handlung für Irritationen gesorgt hat, und sehen, dass es ein Fehler war. Wir bitten alle um Entschuldigung, deren Gefühle wir verletzt haben. Wir werden aus der Situation lernen und künftig ein besseres Urteilsvermögen an den Tag legen.

Die Sätze tönen, als hätte man ihnen den Text Wort für Wort vorgelegt. Sie tönen wie die Entschuldigungsbriefe, die man irgendwann in der Kindheit verfassen musste: «Es tut mir leid. Ich war böse. Ich mache es nie mehr.»

Aber selbst damit ist es noch nicht getan. Denn auch der Europäische Fechtverband fürchtet nichts so sehr wie die Keule des Antisemitismus. Deshalb kann er solche Eskapaden nicht dulden. Besorgt um die Disziplin im eigenen Haus spricht er gegen die Schweizer Fechter eine Verwarnung aus. Doch der Fechtverband meint es gut mit den Schuldigen. Auf eine Sperre verzichtet er väterlich.

Vier idealistische junge Menschen haben ihre Lektion gelernt. Von nun an werden sie schweigen. Denn sie wissen jetzt: Mut allein genügt heute nicht mehr. Standhaftigkeit ist gefragt. Wer sich dem Mainstream entgegenstellt, muss ein dickes Fell haben. Jonathan, Ian, Theo und Sven hatten diese Kraft nicht. Aber sie sind noch jung. Vielleicht kehrt ihr Kampfgeist eines Tages zurück.

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

Der Fünf Minuten-Podcast «Mitten im Leben» von Nicolas Lindt ist zu finden auf Spotify, iTunes und Audible.

> App für iPhone herunterladen

> App für Android herunterladen

Neues Buch: «Orwells Einsamkeit - sein Leben, ‚1984‘ und mein Weg zu einem persönlichen Denken». Erhältlich im Buchhandel - zum Beispiel bei Ex Libris oder Orell Füssli

Alle weiteren Informationen: www.nicolaslindt.ch


Newsletter bestellen