Zu Besuch in der Gegenwelt

Der eine kämpft mit Gemeindefusionen, der andere mit Terroristen. Wenn der Stadtpräsident von Bern auf den Bürgermeister von Mogadischu trifft, mangelt es nicht an Unterschieden. Gibt es auch Verbindendes?

Ein Gastgeschenk von Mogadischu für Bern zum Überziehen. Omar Osman, Stadtpräsident von Mogadischu und sein Berner Amtskollege Alec von Graffenried. (Fotos: Klaus Petrus)

Es ist ein grauer Freitagmorgen, als in der pittoresken Altstadt von Bern zwei Welten aufeinandertreffen. Im ersten Stock eines Stadtpalais im historischen Kern der Schweizer Kapitale steht Abdirahman Omar Osman, Bürgermeister von Mogadischu, und berät sich mit seiner Entourage. Grosse Fenster geben den Blick frei auf den Innenhof, die Wände sind hoch und prunkvoll verziert, die Gäste flüstern – so eindrücklich ist die Szenerie. Dann öffnet sich eine Tür und Alec von Graffenried, Stadtpräsident von Bern, betritt den Raum. Die beiden Amtskollegen begrüssen sich, dann posieren sie für die Kameras.
Auf der rechten Seite: Bern, aufgeräumt und bestens organisiert, von Kriegshandlungen seit Ewigkeiten verschont.
Auf der linken Seite: Mogadischu, Hauptstadt Somalias, bis vor Kurzem Synonym für Bürgerkrieg, Terror und Chaos.
Zwei Männer, die den gleichen Job machen und deren Arbeit doch unterschiedlicher nicht sein könnte.

Kalaschnikows und Ruinen 

Vier Monate zuvor sitzt Abdirahman Omar Osman hinter einem breiten Schreibtisch in seinem Büro in Mogadischu und nimmt eine handschriftliche Einladung aus Bern entgegen. Überreicht wird sie ihm von Yahya Dalib, einem Somalier, der seit zwanzig Jahren in der Schweiz lebt. In Bern setzt er sich für die Integration geflohener Menschen ein, in Somalia unterstützt er humanitäre Projekte – jetzt sollen die beiden Welten zueinanderfinden.
Das Büro des Bürgermeisters ist geschmackvoll eingerichtet, die Wände sind hoch, die Fensterfront bietet Ausblick auf die Stadt und einen schönen Innenhof. Doch damit hat es sich mit den Parallelen zur Schweizer Bundesstadt. Während der Stadtpräsident von Bern seinen Amtssitz zu Fuss verlässt, durch Lauben spaziert, an gut erhaltenen Sandsteingebäuden vorbei, beginnt in Mogadischu kurz nach der Bürotür die Risikozone. Wenn Osman seinen Amtssitz verlässt, steigt er im Innenhof in einen weissen Toyota Pickup mit verdunkelten Scheiben, auf die Ladefläche springen Soldaten mit Kalaschnikows, bereit, auf jeden zu schiessen, der dem Bürgermeister zu nahekommt. Nicht Sandsteingebäude säumen hier den Arbeitsweg, sondern Ruinen, die zerschossenen Gebäude der Altstadt von Mogadischu, Zeugen eines vergangenen Krieges.  
Somalia hat in den letzten Jahren viel durchgemacht. Zuerst der mörderische Bürgerkrieg, dann die Hungersnot mit 250 000 Toten und jetzt, immer wieder, Dürren und Anschläge der islamistischen Terrormiliz al-Shabaab. Abdirahman Omar Osman bleibt nicht selten bis spätabends in seinem Büro, empfängt Berater, Gäste und grübelt über den Problemen seiner Stadt.  

Kampf gegen Image

Szenenwechsel nach Bern. Der Bürgermeister von Mogadischu sitzt an einem runden Holztisch im Büro des Stadtpräsidenten und erzählt die Geschichte seines Landes: vom beliebten Touristenziel in den 1980er über den Bürgerkrieg in den 1990er bis hin zur schnell wachsenden, aber armen Metropole, die Mogadischu heute ist. Seit einigen Jahren seien sein Land – und vor allem seine Stadt – spürbar sicherer und stabiler geworden, so Osman. «Das Bild, das die Welt von Mogadischu hat, ist viel schlechter als die Realität», sagt auch Doktor Hodan Ali, die den Bürgermeister als Beraterin begleitet. Um diese Wahrnehmung zu korrigieren, sei es wichtig, sich mit potenziellen Partnern auszutauschen.   
Zusammen mit zwei Mitarbeitenden ist Abdirahman Omar Osman nach Bern gekommen, um seinen Amtskollegen zu treffen und mögliche Partner im Kampf für eine bessere Zukunft zu finden. Alec von Graffenried hört zu, stellt Fragen und staunt, als ihm der Amtskollege erzählt, dass Mogadischu eine halbe Million Binnenflüchtlinge aufgenommen habe und er schon mal mit Vollgas einem Kugelhagel entfliehen musste. Der Berner Stadtpräsident, der sich in seinem Berufsalltag eher mit Kultur und Gemeindefusionen beschäftigt, wird später sagen: «Für eine Zusammenarbeit unserer Städte ist es wohl noch etwas zu früh.» Er habe gehofft, dass die Normalisierung nach dem Bürgerkrieg schon etwas weiter fortgeschritten sei.
Nach dem Treffen wird sich von Graffenried darum kümmern, dass keine unvorteilhaften Bilder von ihm und seinem Besucher in der lokalen Zeitung erscheinen. Abdirahman Omar Osman hingegen wird die Nachricht erhalten, dass in Mogadischu zwei Bomben hochgegangen sind. 13 Tote und 17 Verletzte. Mindestens.

Wohlstand durch Inklusion  

Wenn etwas deutlich wird an diesem Tag, dann die riesige Distanz, die noch immer zwischen den beiden Welten liegt – aller Globalisierungstendenzen zum Trotz. 83 Jahre Lebenserwartung in der Schweiz stehen 56 Jahren in Somalia gegenüber. 680 Milliarden Bruttoinlandprodukt auf der einen Seite, nur sieben auf der anderen. Fast keine akut unterernährten Kinder hier, rund 300 000 dort. Einer der bedeutendsten Unterschiede jedoch offenbart sich eher zufällig im Gespräch, als Alec von Graffenried bei der Besichtigung des Stadtpalais über die Exekutive der Stadt Bern spricht.
«Auch wenn wir oft anderer Meinung sind, müssen wir im Gemeinderat als Team zusammenarbeiten», sagt er. «Und wenn wir ein grosses Projekt realisieren wollen, muss das Volk zustimmen.»
«Das scheint mir ein eher teurer und ineffizienter Prozess zu sein», entgegnet Osman.
«Das System ist etwas langsam, ja», antwortet der Stadtpräsident. «Dafür stehen von Beginn weg mehr Menschen hinter den politischen Entscheidungen. Die Akzeptanz ist grösser.»
«Und wenn die Leute ein Projekt ablehnen? Dann beginnt man von vorne?»
«Mehr oder weniger.»
«Würde ich das in Mogadischu machen, würde man mir Führungsschwäche vorwerfen», sagt Osman.
«Aber wie sagt man so schön?», entgegnet von Graffenried. «Ein Führer ohne Gefolgschaft ist nichts anderes als ein Mann beim Spazieren.»
Und wieder prallen Welten aufeinander. Der Berner wurde von den Einwohnerinnen und Einwohnern seiner Stadt ins Amt erhoben, der Mann aus Mogadischu vom somalischen Präsidenten, der ebenfalls nicht vom Volk gewählt worden ist. Politische Partizipation als Entwicklungsfaktor – was die beiden Männer in lockerem Plauderton verhandeln, ist die zentrale These des vielbeachteten Sachbuchs «Warum Nationen scheitern». Darin argumentieren der Wirtschaftswissenschaftler Daron Acemoğlu und der Politologe James A. Robinson, dass wirtschaftlicher Erfolg und politische Stabilität in erster Linie von inklusiven wirtschaftlichen und politischen Institutionen abhängen. Vereinfacht heisst das: Wo die Bevölkerung in politische Entscheidungsprozesse miteinbezogen wird, garantiert der demokratische Staat die Rechtsstaatlichkeit; wo ein Rechtsstaat besteht und das Engagement der Bürgerinnen und Bürger belohnt wird, entstehen Anreize zur Wohlstandsschaffung. Rechtsstaatlichkeit und inklusive Institutionen – das sind Eigenschaften, welche die Schweiz wie kaum ein anderes Land auszeichnen. Und: Es sind Eigenschaften, die Somalia, seit Jahrzehnten ganz zuvorderst auf der Liste der gescheiterten Staaten, fast gänzlich fehlen.  

Beide Welten vereint

So könnte sie enden, diese Geschichte: mit schier endlosen Unterschieden zweier weit entfernter Welten. Doch als die Männer darauf angesprochen werden, ob es Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gebe, antworten beide ohne Zögern mit Ja. «Wir haben dieselbe Verantwortung den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber», sagt Alec von Graffenried. «Ich habe viel gelernt über die Verhältnisse in Somalia. Vielleicht treffen wir uns nächstes Mal in Mogadischu.» «Wir sind beide nahe an den Menschen, die sich mit konkreten Anliegen an uns wenden», ergänzt Abdirahman Omar Osman. «Unsere Städte sind sehr, sehr verschieden. Doch es gibt immer mehr Menschen, die diese Unterschiede überwinden.»
So passt es, dass die beiden bei ihrem Spaziergang durch die Berner Altstadt auf ein junges Mädchen treffen, das Kopftuch trägt und Sneakers. Sie spricht Schweizerdeutsch und ein bisschen Somalisch, ihre Eltern sind vor dem Krieg aus Mogadischu geflohen, die Familie lebt in Luzern. Als das Mädchen erfährt, wer vor ihr steht, fragt es schüchtern nach einem Bild mit den beiden Stadtvorstehern. Die Männer posieren, das Mädchen lächelt – Somalia, die Schweiz, dazwischen die Zukunft. Nur für die Jüngste sind die Welten keine Gegensätze. Für sie sind sie Teil ihrer Identität.   

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