Zu viel für Bosnien?
Die Balkanroute hat sich von Serbien in den Westen nach Bosnien verschoben. Dort bewegen sich immer mehr Flüchtlinge in Richtung kroatische Grenze. Der Winter naht, Hilfsorganisationen warnen bereits vor einer humanitären Krise. Hoffnung in die bosnische Regierung setzt derweil niemand. Denn die ist überfordert – und hat ganz andere Interessen.
«Wir schauen von Tag zu Tag.» Es ist Ende Oktober und Amira Hadzimehmedovic von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) steht am Eingang von Borići, einer mehrstöckigen Ruine am Rande der bosnischen Stadt Bihać unweit der kroatischen Grenze. Vor dem Bosnienkrieg 1992 bis 1995 mit 100 000 Toten und zwei Millionen Vertriebenen war Borići ein Studentenwohnheim, seit einigen Monaten hausen hier an die 1000 Geflüchtete aus Syrien, Irak, Pakistan, Afghanistan und Nordafrika. Vielleicht sind es auch mehr, denn registriert wurden sie bisher nicht. «Uns sind die Hände gebunden. Niemand fühlt sich verantwortlich, alle sind überfordert. Am meisten die Regierung», sagt Hadzimehmedovic. Wie die Politik mit der «Flüchtlingswelle» umgehe, die sich seit diesem Frühjahr von Serbien nach Bosnien verlagert hat, sei bloss die Spitze des berühmten Eisberges. «Wir haben eine Regierung, die sich selbst ständig lahmlegt.»
Ein unregierbares Land
Das sehen viele so. Bei den Parlamentswahlen am 7. Oktober dieses Jahres blieb fast die Hälfte der bosnischen Bevölkerung zu Hause. «Es ändert sich doch nichts», das war der Grundtenor in den Wochen davor. Bosnien, seit dem Friedensabkommen von Dayton 1995 in die «Föderation Bosnien-Herzegowina» und die «Republika Srpska» aufgeteilt, ist praktisch unregierbar geworden. Damals wurden alle wichtigen politischen Ämter paritätisch mit je einem Vertreter der im Land ansässigen muslimischen Bosniaken, katholischen Kroaten und orthodoxen Serben besetzt – und zwar vom Präsidium über die Ministerien bis hin zum Gemeinderat. Das ist bis heute so, was dazu führt, dass Bosnien derzeit über 14 Parlamente verfügt, 136 Minister sowie drei Präsidenten, die sich in einem Turnus von acht Monaten im Amt des Staatspräsidenten abwechseln.
Ausufernde Dezentralisierung, Korruption und eine überdimensionierte Bürokratie sind die Folgen dieses Staatsmodells. Eine serbische Zeitung hat vorgerechnet, dass Bosniens Administration umgerechnet 250 000 Euro verschlingt – pro Stunde. Und das in einem Land, in dem die Leute durchschnittlich 300 Euro pro Monat verdienen. So oder so scheinen die unterschiedlichen Parteien weitgehend ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Weil der Wille zur Zusammenarbeit oft fehlt, jedoch alle wichtigen Entscheide im Konsens gefällt werden müssen, werden viele dringliche Probleme auf unbestimmte Zeit vertagt.
Die derzeitige Flüchtlingskrise ist solch ein dringliches Problem. Seit der Verlagerung der Balkanroute nach Westen kommen immer mehr Vertriebene auf ihrem Weg nach Europa nach Bosnien. Wurden letztes Jahr weniger als 1000 Geflüchtete gezählt, sind es seit Januar 2018 bereits 20 000. Derzeit halten sich 4000 im Land auf, die meisten im Nordwesten bei Bihać sowie in der Grenzstadt Velika Kladuša. Statt einem Plan, wie mit dieser Herausforderung umzugehen ist, gibt es seitens der Regierung oft gehässige Polemik und eine verschärfte Rhetorik.
So hat Milorad Dodik, seit Jahren Anführer der bosnischen Serben in der Republik Srpska und diesen Oktober mit 57 % wiedergewählt, das «Flüchtlingsproblem» immer wieder für innenpolitische Zwecke instrumentalisiert. Die von Muslimen beherrschte Zentralregierung in Sarajevo heisse die Migranten aus dem Nahen und Mittleren Osten doch nur deshalb willkommen, um Bosnien endgültig in ein muslimisches Land zu verwandeln, so Dodik.
Solidarität ist gross
Zumindest bislang widersteht die bosnische Bevölkerung der Propaganda der Nationalisten und sieht in den Geflüchteten keine Gefahr. «Zwar hat es in Bihać Proteste gegeben, doch die Solidarität mit den Geflüchteten ist nach wie vor gross. Selbstverständlich ist das nicht», sagt Amira Hadzimehmedovic und spielt auf die desolate Wirtschaft Bosniens an. Fast 40 % beträgt die Arbeitslosigkeit, damit liegt das Land nach Dschibuti und dem Kongo weltweit auf Platz drei.
Entsprechend gross ist die Abwanderung. Lebten vor dem Krieg 1991 4.5 Millionen Menschen in Bosnien, sind es jetzt noch 3.6 Millionen. Allein in den vergangenen zwei Jahren sollen 80 000 Bosnier ihr Land verlassen haben. Letztlich sieht Hadzimehmedovic in der eigenen Geschichte den Grund für die ungewöhnliche Solidarität der lokalen Bevölkerung gegenüber den Geflüchteten: «Krieg, Flucht, Armut – und das Gefühl, von der Welt vergessen zu werden. Das alles kennen wir selbst auch.»
Die Bereitschaft zu helfen sei gross, das sagt auch Amin, ein 23-jähriger Afghane, der seit einem halben Jahr am bosnischen Grenzort Velika Kladuša nur zwei Kilometer von der kroatischen Grenze festsitzt. Er musste 2016 aus der Provinz Kandahar fliehen, kam via Iran in die Türkei und von dort über Bulgarien, Mazedonien und Serbien nach Bosnien – und lebt nun mit einem Dutzend Landleuten ausserhalb von Velika Kladuša in einem verlassenen Hangar. «Wir erhalten viel Unterstützung von der lokalen Bevölkerung, sie bringen uns Kleider, manchmal auch Essen. Und sie laden uns in ihre Häuser ein, damit wir die Telefone aufladen können, denn hier gibt es keinen Strom», erzählt Amin. Auf die Regierung könnten sie, die Geflüchteten, jedenfalls nicht zählen. »Die machen nur Versprechungen. Und die grossen NGOs auch.«
Wer ist verantwortlich?
Bis vor kurzen war Amin noch in einem Camp auf der anderen Stadtseite. Damit sich die Geflüchteten nicht mehr im Stadtpark aufhalten, wurde ihnen dort im Frühjahr von der Gemeinde ein Grundstück zugewiesen. Zurzeit leben in diesem Lager an die 400 Menschen. «Alles ist verdreckt, es gibt keine Elektrizität, die Wasserleitungen funktionieren nicht immer. Und die Stimmung unter den Geflüchteten ist alles andere als gut», erzählt Amin, weswegen er beschlossen hat, vom Lager in den verfallenen Hangar zu ziehen. Tatsächlich scheint das Camp in Vergessenheit zu geraten. Zwar ist Médecins sans frontières bis dreimal pro Woche vor Ort und das Rote Kreuz sorgt für die Essensverteilung. Doch darüber hinaus fühlt sich offenbar niemand für das Lager verantwortlich.
Und so sind es auch hier neben den Einheimischen vor allem kleine Gruppierungen von international zusammengesetzten Freiwilligen, welche die Geflüchteten mit dem Nötigsten versorgen. Dazu gehört «No Name Kitchen», eine Organisation, die 2017 in der serbischen Hauptstadt Belgrad gegründet wurde und jetzt in Velika Kladuša Kleider verteilt und Duschen anbietet. Auch Stefan Weigel von UMINO kommt seit Mai dieses Jahres regelmässig mit Hilfsgütern aus Passau an die kroatische Grenze. Für ihn ist das Lager von Velika Kladuša zu einem Symbol geworden. «Irgendwie geht es nicht voran, die Situation vor Ort ist auch nach Monaten immer noch so, als sei alles kurzfristig eingerichtet worden. Zwar wird der Ruf nach Hilfe immer lauter, doch ich fürchte, er wird einmal mehr nicht gehört werden. Dabei kommt alles noch schlimmer, denn bald ist Winter.»
Vor der kalten Jahreszeit fürchten sich auch die Geflüchteten. Deshalb versuchen viele, noch vor Einbruch des Winters über die Grenze zu kommen – ob mit Hilfe von Schleppern, die ihnen versprechen, sie für 1500 Euro nach Italien zu bringen, oder auf eigene Faust. Auch Amin hat dieses «Game» schon einige Male gespielt. Doch immer wurde er von der kroatischen Polizei aufgegriffen und nach Bosnien zurückgeschafft. «Sie haben mich verprügelt, mein Handy kaputtgeschlagen und mir alles Geld genommen.» Wie vor einem Jahr an der serbisch-ungarischen Grenze, so häufen sich nun auch hier die Berichte über gewaltsame Übergriffe der Grenzpolizei. Nach Angaben von No Name Kitchen weisen zwei Drittel der Migranten, die von der kroatischen Polizei gefasst werden, Verletzungen auf.
Die kroatischen Behörden dementieren die Vorwürfe, lassen aber keinen Zweifel offen, dass sie – wie die ungarische Regierung – eine rigide Flüchtlingspolitik verfolgen. Kroatien ist zwar Mitglied der EU, aber nicht Teil des Schengen-Raums und wird wohl einiges daransetzen, dem Rest der EU zu zeigen, dass es durchaus in der Lage ist, seine Grenzen zu schützen.
Inzwischen hat Amira Hadzimehmedovic von IOM alle Hände voll zu tun, denn offenbar kam es nun doch zu einem Entscheid. Das ehemalige Studentenheim Borići soll wintertauglich gemacht werden, als erstes werden im Erdgeschoss Fenster eingesetzt. Zudem hat die Stadt gemeinsam mit IOM, MSF und dem Roten Kreuz in der ehemaligen Lagerhalle «Bira» ein Camp eingerichtet, mit Betten, Duschen und Strom. Ein Teil der Geflüchteten von Borići wurde bereits dorthin gebracht. Für 600 Menschen soll es da Platz haben. Hadzimehmedovic weiss, das reicht lange nicht aus. «Der Winter naht und wir werden eine Katastrophe erleben, wenn wir jetzt nicht vorsorgen. Bira ist ein Anfang, immerhin.»
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