Zwischen weich und hart

Für den richtigen Tonus brauchen unsere Muskeln einen lebendigen Alltag

(Foto: Editz von Arps-Aubert

Im Alltag sprechen wir von «verspannten» oder «schlaffen», von «steifen» oder «lockeren» Typen und meinen damit den ganzen Menschen. Das hat in jeder einzelnen Muskelfaser seine Entsprechung und ist bei jedem anders. Und es ändert sich ständig – je nachdem was wir tun.

Extreme, die auffallen: Während Fitnesszentren den harten Sixpack bewerben, sind auf den Strassen viele untrainierte und übergewichtige Menschen zu sehen. Die lebendige Mitte – unspektakulär im Allgemeinen – verhilft beispielsweise dem durchtrainierten Roger Federer zum sportlichen Erfolg.
Meine Empfehlung: Nicht resignieren oder mit verbissenem Willen trainieren. Wir haben alle einen kleinen Roger Federer in uns. Die lebendige Muskelmasse im mittleren Gundtonus, die beim Kleinkind gegenwärtig ist und uns verzückt, können wir uns erhalten oder wiederfinden. Dazu braucht es vor allem einen lebendigen Alltag.

Wir haben drei grossartige Helfer: Den Widerstand, die Störung und den Ärger. Wir meiden sie und doch sind sie es, die uns als Spiegel dienen und als Anstoss hilfreich sind. Der Boden ist hart. Wenn sich ein weiches Lebewesen auf ihn legt, gibt er ihm Halt. Die Schlange zum Beispiel ruht auf ihm. Aber sie kann sich auch blitzschnell von ihm abstossen.
Wie fühlt es sich an, wenn ein knochiger Mensch auf dem Boden liegt? Stören nur die Knochen oder auch die verhärteten Muskeln? Wer sich in der Dynamik einer sich entrollenden Schlange auf dem Fussboden bewegt, kann unendlich viel entdecken.
Man kann versuchen, still zu liegen wie die Schlange. Man kann aber auch ausprobieren, wie viel Kraft erforderlich ist, um sich am Widerstand des Bodens aufzurichten. Genauso ist es mit der Störung und dem Ärger. Man kann spüren, was sie auslösen, und man kann sich von ihnen bewegen lassen. Erstaunlich, nicht?

Jetzt sind wir im Spiel des Lebens angekommen: Zwischen Ruhe und Bewegung, zwischen hart und weich, im Reich der unendlich vielfältigen Bewegungen. Vor hundert Jahren suchten die Gymnastikerinnen die mittlere Qualität in der Harmonie, im Rhythmus und im fliessenden Atem. Ihr Vorbild war die klassische Skulptur, die dieses Ideal in Marmor verkörpert. Sie vereinen die Lebendigkeit und die Ruhe des Neugeborenen im Stein. Kein Widerspruch.

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Literaturhinweis:
Ulfried Geuter, Körperpsychotherapie, Springerverlag 2015.
Joachim Küchenhoff/ Klaus Wiegerling, Leib und Körper, Vandenhoeck & Ruprecht 2008.