50 Jahre Damanhur – Besuch in der spirituellen Gemeinschaft in Norditalien
Wie gehen Gemeinschaften mit der Polykrise um? Zu dieser Frage war ich gemeinsam mit rund 60 Vertretern und Vertreterinnen spiritueller Gemeinschaften nach Damanhur eingeladen. Denn dieses Jahr feiert die legendäre Gemeinschaft in Norditalien ihren 50. Geburtstag. Ein Video.
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Damanhur mit seinen mehreren hundert Mitgliedern ist «mehr als eine Gemeinschaft», wie sie selbst sagen: Es ist ein Volk. 1975 zog eine Gruppe von 25 jungen Leuten aus Turin aufs Land und gründete die Föderation von Damanhur. Sie folgten dabei dem spirituellen Lehrer Oberto Airaudi, genannt Falco. Im Valchiusella-Tal, so fanden sie, überkreuzen sich mehrere synergetische Erdlinien – ein geeigneter Ort, um das geistige Feld der Erde zu beeinflussen. 

Und bald begannen sie mit dem, was die Gemeinschaft berühmt machen sollte: Sie begannen heimlich zu graben, Nacht für Nacht, trugen die Erde in Eimern weg. 16 Jahre lang bauten sie so ihren unterirdischen Tempel, eine lebendige Bibliothek, ein farben- und symbolprächtiges Kunstwerk mit vielen Hallen in bis zu 30 Metern Tiefe. Es ist eine Explosion von Kreativität, Symbolen und vielen verschiedenen Deutungsebenen. Das sind alles Aufnahmen aus dem Internet, da wir bei unserem Besuch nicht fotografieren durften. 



Dann wurden sie von einem ehemaligen Mitglied verraten. Verhandlungen mit Behörden folgten. Am Ende durfte der unterirdische Tempel der Menschheit bleiben und ist heute eine Attraktion für Touristen und spirituell Suchende. 

Doch Falco inspirierte «sein Volk» nicht nur zum Bau des Tempels, sondern zu vielen anderen ungewöhnlichen Leistungen in Forschung, Handwerk, Heilung und Kunst. Teilweise als Sekte verschrieen, blieben die Damanhurianer doch vor allem eins: kreativ, pragmatisch und flexibel. Ausdruck ihrer Kreativität ist zum Beispiel eine jährliche Olympiade der Künste. Oder die Tier- und Pflanzennamen, mit denen jedes Gemeinschaftsmitglied sich selber nennt. Jedes Mal wenn jemand sie ruft, erklingt auch die Frequenz eines Naturwesens. 

Sie leben zusammen in so genannten Nucleos: das sind WGs zwischen 5 und 25 Menschen, die sich mit einer gemeinsamen Aufgabe beschäftigen – Solarenergie, Heilung, Lebensmittelproduktion oder ähnliches, gemeinsam ihren Alltag bestreiten und sich gegenseitig in allem unterstützen. Die ganze Gemeinschaft – das Volk – kommt immer wieder in grossen Festen in den Tempeln oder zu Ritualen zusammen. Verbindend ist für alle die Meditationspraxis und der Wille, dieser Praxis einen materiellen Ausdruck zu verleihen. Mit ihrer Kreativität und ihrer spirituellen Heransgehensweise fanden sie ungewöhnliche Lösungen für viele Herausforderungen. Und da gab es einige.

Falco starb 2013 an einer Krebserkrankung. Viele Gemeinschaften überleben es nicht, wenn ihr Gründer stirbt. Doch Damanhur hatte von Anfang an ein soziales System aufgebaut, wo die Verantwortung und die Entscheidungsmacht auf viele Schultern verteilt wurde. 


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Einige Jahre später gab es einen enormen ökonomischen Engpass durch die Corona-Krise. Kurse konnten nicht mehr stattfinden, und viele Mitglieder konnten ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten.
Eine konsequente Gemeinschaftsökonomie des Teilens und eine Professionalisierung der Onlinekurse waren diesmal die Lösung, wie der derzeitige Sprecher von Damanhur, Barys Elleboro, ausführte: Dadurch ist die Meditationsschule von Damanhur heute in vielen Ländern präsent, u.a. Japan und Peru.

Für uns Besucher und Teilnehmer zeigt sich eine beeindruckende Mischung aus Herzlichkeit, buntem Einfallsreichtum und Pragmatik.  Vertreter und Vertreterinnen aus Auroville aus Indien, Findhorn aus Schottland, Tamera aus Portugal, dem ZEGG aus Deutschland sowie aus der Schweiz Schweibenalp und Schloss Glarisegg waren zum Jubiläum gekommen und berichteten in Vorträgen und Arbeitsgruppen, wie sie mit Krisen umgehen.

Es war ein imposanter globaler Eindruck von der Kraft der Gemeinschaften. Alle sind in verschiedener Weise von der der Polykrise betroffen – vom Druck finanzieller Problemen, legaler Konflikte, mit Sektenvorwürfen und Konflikten des Generationswechsels nach dem Tod oder dem Rückzug ihrer Gründer. Doch gleichzeitig erweist sich die Gemeinschaft der Gemeinschaften als ziemlich flexibel und bereit, sich gegenseitig zu unterstützen und voneinander zu lernen.

Am Ende des Treffens ging es vor allem um das Thema Vertrauen angsichts der Polykrise: Vertrauen heisst nicht, die Augen vor der Realität und möglichen Bedrohungen zu verschliessen und nichts zu tun. Vertrauen heisst, zu wissen, dass es trotz aller Widrigkeiten einen Sinn gibt.

Christa Dregger-Barthels

Christa Dregger-Barthels

Christa Dregger-Barthels (auch unter dem Namen Leila Dregger bekannt). Redaktionsmitglied des Zeitpunkt, Buchautorin, Journalistin und Aktivistin. Sie lebte fast 40 Jahren in Gemeinschaften, davon 18 Jahre in Tamera/Portugal - inzwischen wieder in Deutschland. Ihre Themengebiete sind Frieden, Gemeinschaft, Mann/Frau, Geist, Ökologie.

Weitere Projekte:

Terra Nova Plattform: www.terra-nova.earth

Terra Nova Begegnungsraum: www.terranova-begegnungsraum.de

Gerne empfehle ich Ihnen meine Podcast-Reihe TERRA NOVA:
terra-nova-podcast-1.podigee.io.  
Darin bin ich im Gespräch mit Denkern, Philosophinnen, kreativen Geistern, Kulturschaffenden. Meine wichtigsten Fragen sind: Sind Menschheit und Erde noch heilbar? Welche Gedanken und Erfahrungen helfen dabei? 

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