«Aufklärung 2.0» oder die Vertreibung ins Paradies
Die Unterscheidung zwischen gut und bös ist das, was uns zu Menschen macht. Ein Beitrag zur geistigen Selbstverteidigung.
«Der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit»; dies stellt gemäss dem Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) das Ziel der so genannten Aufklärung dar. Dabei versteht er Unmündigkeit als «das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen».
Angesichts der aktuellen Weltlage gewinnt man den Eindruck, dass gerade eine neue «Aufklärung 2.0» im Gang ist. Werden wir nicht täglich von unterschiedlicher Seite darüber belehrt bzw. aufgeklärt, was «aus rationaler Sicht» gut oder schlecht, vernünftig oder unvernünftig, wahr oder falsch sei?
Dass der vernunftbegabte Mensch selbst die Fähigkeit besitzt, das Gute vom Bösen zu unterscheiden, ist jedoch keine Erkenntnis der Aufklärer aus dem 18. Jahrhundert, sondern wird bereits in einer viel älteren Quelle erwähnt. Wie in der Schöpfungsgeschichte der Bibel berichtet wird, hat uns sozusagen der ungezügelte Appetit der Paradiesbewohner nach den Früchten des «Baums der Erkenntnis» diese Fähigkeit beschert:
Darauf sagte die Schlange zur Frau: Nein, ihr werdet nicht sterben. Gott weiss vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse. (Genesis 3,4-5)
Wenn wir also der Bibel Glauben schenken wollen, verdanken wir unsere geistige Mündigkeit bemerkenswerterweise der verführerischen Gegenspielerin des Schöpfergotts, der schlauen und listigen Schlange.
Die Fortsetzung der Geschichte ist bekannt: Da das göttliche Paradies keinen geeigneten Lebensraum für ungehorsame und selbstbewusste Geschöpfe bietet, sind wir Menschen seither dazu «verdammt», unser Dasein als freie und moralisch verantwortlich handelnde Wesen «im Schweisse unseres Angesichts» zu fristen.
Kein Wunder daher, dass in jedem von uns die Sehnsucht nach den paradiesischen Verhältnissen weiterschlummert: Von Harmonie und einem vollkommenen Frieden umschlossen zu sein; ungetrennt und eins mit den Menschen und der Natur zu leben; sein Handeln nicht selbst verantworten zu müssen; die Augen vor der belastenden Realität verschliessen zu dürfen.
Aber Vorsicht: Nicht selten erweist sich der latente Wunschtraum vom Paradies als eine verhängnisvolle menschliche Schwachstelle, deretwegen wir leicht der Verführung durch wohlklingende Verheissungen oder «Visionen» erliegen. Solche haben ja gegenwärtig wieder einmal Hochkonjunktur und stellen uns – gegen «ein kleines Opfer» – eine «bessere Welt» oder einen «grossartigen Neubeginn» in Aussicht.
Um schliesslich auf Immanuel Kant zurückzukommen: Fassen wir gerade heute den Mut, uns unseres angeborenen Verstandes zu bedienen (sapere aude!) und lassen wir uns nicht durch Visionäre und «Menschenliebhaber» (Philanthropen) zurück in ein «Paradies» vertreiben. Denn der Preis dafür ist hoch: Wir verlieren nicht nur unsere Mündigkeit und Freiheit, sondern letztlich auch die Menschenwürde.
Könnte es allenfalls sein, dass sich hinter dem absoluten («alternativlosen») Guten dasjenige verbirgt, was Kant als das «radikal Böse» bezeichnet hat?
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