Karfreitag – ich habe diesen Tag und dieses Wort nie geliebt. Wie bei jedem besonderen Tag fallen mir Bilder ein. Und als erstes, wenn ich an den Karfreitag denke, sehe ich vor mir eine Inselfähre in Griechenland. Der Himmel ist dunkel, bewölkt, ich sehe die Autos über die Rampe fahren und im Bauch der Fähre sich einen Platz suchen – und ich sehe den Lastwagen.
Er kommt als letztes Fahrzeug aufs Schiff, und die Erschütterung beim Überqueren der Rampe führt zu erneuten Schmerzenslauten. Denn der Transporter ist vollgepfercht mit Lämmchen und Schafen, die schon halb tot sind und doch noch leben. Zusammengequetscht auf engstem Raum, übereinander gestapelt in mehreren Schichten, ringen die Tiere um Luft und Erbarmen, strecken ihre Köpfchen, wenn sie es können, über den Lastwagenrand und wimmern, blöken, rufen um Hilfe.
Wir, die wir auf diese Fähre wollen und das Leid der Tiere mitansehen – wir sollen helfen!
Die Einheimischen tun nichts, weil das Bild für sie, so scheint es, normal ist, weil dieselben Szenen sich an jedem Karfreitag ereignen. Lämmer und Schafe werden von den Inseln aufs Festland gebracht, wo sie verkauft und geschlachtet werden, um als Osterbraten auf Athener Festtagstischen zu enden.
Aber auch wir, die Fremden tun nichts, weil wir in Griechenland nur zu Gast sind. Vor allem aber müssen wir ehrlich sein. Wir müssen uns eingestehen, dass auch in unserem Land, wenn Ostern sich nähert, Heere von Lämmern in Transporter getrieben und an Orte gebracht werden, von denen sie nicht mehr zurückkehren.
Nein, ich hatte kein Recht auf Empörung an jenem Karfreitagabend beim Besteigen der Fähre. Es blieb auch mir nichts anderes übrig, als tatenlos zuzusehen – als dem Leiden der Kreatur in die Augen zu sehen.
Jahre, Jahrzehnte sind seither vergangen. Doch die Bilder sind immer noch da. Vor allem die Augen – ich vergesse sie nie. Nicht die starren gebrochenen Blicke der schon verendeten Tiere, sondern die Blicke derer, die sich am Leben noch festklammerten: stumm verzweifelt die einen, leise flehend, apathisch bittend die anderen. Ich empfand keinen Vorwurf in ihren Augen. Nur diese Bitte um Hilfe, deren Verweigerung grausamer war als die Qualen des Sterbens selbst.
Hätte ich wenigstens protestieren und «Tierquälerei!» rufen können, dann hätte ich mich sogleich besser gefühlt. Aber das ging hier nicht. Ich konnte mich nicht entlasten. Ich war den Augen all dieser leidenden, sterbenden Lämmer ohnmächtig ausgeliefert. Und ich erlebte an jenem Karfreitag wie nie zuvor – und wie nie mehr seither –, dass es eine Schuld des Menschen gegenüber dem Tier gibt. Eine Schuld unabhängig davon, ob man sein Richter oder sein Fürsprecher ist. Ich fühle mich schuldig am Leid dieser Osterlämmer. Nicht in meinen eigenen Namen. Ich fühlte mich schuldig als Mensch. Und alle anderen um mich herum, die der Szene mit dem Lastwagen beigewohnt hatten, trugen dieselbe Schuld.
Warum erzähle ich, so viele Jahre später, diese Geschichte?
Weil sie am Karfreitag geschah. So wie die griechischen Lämmer an jenem Abend gelitten haben, hat in einer ganz anderen Weise, so erzählt es die Bibel, Christus am Kreuz gelitten. Und so wie das Leiden der Lämmer ein Leiden für uns war, hat auch Jesus Christus, so heisst es, für uns gelitten.
Ich bin aufgewachsen ohne Busse und ohne Beichtstuhl, freiheitlich denkend, vernünftig, modern: protestantisch eben. Und doch habe auch ich die Kirche, den christlichen Glauben, das Evangelium als etwas erlebt, das nicht hell und leicht ist, sondern dunkel und schwer. Die Freude war nur am Anfang. An Weihnachten, nach der Geburt des Christkindes. Dann folgten bereits die ersten beklemmenden Schatten, und dann kam unerbittlich und düster das Ende: Dieser Jesus, der doch so gut und so selbstlos war, stirbt auf qualvollste, elende Weise am Kreuz. Das ganze Evangelium war überschattet von seinem tragischen, traurigen Schluss.
Doch an der Geschichte selbst lag es nicht. Sondern an der Art, wie sie vermittelt wurde. Das Beengende war die Moral, in deren Dienst die Geschichte stand. Wenn jemand leidet und stirbt und er tut es für mich, dann bin ich in seiner Schuld. Dann muss ich trauern um ihn, ob ich will oder nicht, dankbar sein, ob ich will oder nicht. Dann bin ich nicht frei. Ich spürte, dass die Kirche mich unfrei macht. Sie verlangte ein Schuldbekenntnis von mir.
Natürlich sprach der Pfarrer davon, dass der Gekreuzigte an Ostern den Tod überwand. Aber das änderte nichts. Gott verhalf dem Toten zur Auferstehung, nicht wir. Wir, die Menschen, schauten nur zu. Deshalb blieben wir schuldig. Ostern befreite uns nicht von der Dunkelheit des Karfreitags. Die Auferstehung blieb im Schatten der Kreuzigung, das war das Bild, das mir die Kirche vermittelte. Nicht in diesen Worten, aber in diesem Sinn.
Ich erinnere mich nicht, dass ich die eine Kirche grundsätzlich anders empfand als die andere. In beiden Kirchen waren die Bibeln – und nicht nur die Bibeln – schwarz. Schwarz wie die Särge der Toten. Und in beiden Kirchen gab es das Kreuz. Heute weiss ich, wie reich die Symbolik des Kreuzes ist. Aber ich werde mich nie mit ihm anfreunden können. Denn ob mit oder ohne Christus: Das Kreuz in der Kirche ist das Kreuz, an dem er gemartert wurde. Das Kreuz ist im Grunde ein Galgen. Der Galgen von Golgatha.
Das Kreuz gefiel mir auch deshalb nicht, weil es so dürr war. Diese zwei dürren Stecken hatten nichts Lebendiges an sich, und es fehlte das Element, das ich Jahre später erst, am keltischen Kreuz, bewusst wahrnahm: Es fehlte der Kreis. Es fehlte die Rundung.
Wie ein mahnender Finger erschien mir das Kreuz in der Kirche. Es mahnte mich: Denk’ daran! Er starb für dich! – Ich wollte nicht daran denken. Ich begann den erhobenen Finger zu meiden. Ich begann auch die Bilder zu meiden, all diese Bilder, die den Leidenden zeigen, die Dornenkrone, die blutenden Hände, die blutenden Füsse, dieses Gesicht, das nicht lachte, nicht froh war: Ich konnte es nicht mehr sehen.
Denk’ daran, drohten die Bilder, er litt für dich!
Es kam der Punkt, wo die blosse Erwähnung des Namens mich abstiess. Jesus Christus – das tönte nach Tod. Ich aber war jung und ich wollte leben. Und so tat ich schliesslich das einzige, was ich noch tun konnte: Ich ging auf Distanz. Ich trat aus der Kirche aus.
Damals nannte ich andere Gründe. Argumente, die mir der Kopf diktierte. Sätze bei denen der Zeitgeist mitschrieb. Von meiner Abneigung, die gefühlsmässig war, sprach ich nicht. Bewusst war sie mir nicht, damals. Aber keine zehn Pferde brachten mich mehr in eine Kirche hinein. Und ich war nicht der Einzige, der so fühlte.
Viele haben sich abgewandt vom Kreuz Christi. Nicht alle haben den Austritt gegeben. Aber innerlich sind sie nicht mehr dabei. Innerlich wissen sie nicht mehr, ob sie noch Christen sein sollen. Und woran liegt das? Vor allem, glaube ich, an der Moral des Karfreitags.
Als ich an jenem Abend in Griechenland das Leiden der Lämmer mitansehen musste, habe ich die Augen davor nicht verschlossen. Ich habe mitgelitten mit diesen Tieren, ich hatte Mitleid. Und ich fühlte die Mitverantwortung an ihrem Leid.
Wenn ich mich aber am gleichen Tag, an diesem gleichen Karfreitag, an das Leiden Christi erinnern soll, dann will ich das immer noch nicht. Und ich begreife jeden, der mit Jesus Christus am Kreuz nichts zu tun haben will. Heute, wo alles freiwillig ist – und das ist gut so –, will sich freiwillig niemand für den Gekreuzigten geisseln. Niemand will das schwere Kreuz heute noch mittragen müssen.
*
Doch in dieser Verneinung bin ich nicht stehengeblieben. Ich fand einen Weg seinerzeit - einen Weg, um weiterzugehen. Er führte mich in die Freiheit des Geistes. Ich überwand die Dogmen, die mich verführen und fesseln wollten. Ich befreite mich von den Denkverboten. Meine Neugier erwachte. Ich begann zu lesen. Zuerst historische Bücher. Philosophische Bücher. Ich ging zurück in die Menschheitsgeschichte. In die Kulturgeschichte. Die Geschichte der Religionen. Ich entdeckte das spirituelle Leben der Kelten. Die Spiritualität der ersten irischen Mönche. Die Mystik des Mittelalters. Die Religion der Indianer. Die Worte von Khalil Gibran. Die Worte des Dalai Lama.
Ich setzte mich auseinander mit all diesen Dingen, ich dachte nach. Mehr noch: Ich lernte zuhören. Und ich lernte, dass nicht alles, was wahr ist, im heutigen Sinne beweisbar ist. Und doch ist es wahr. Ich lernte zu glauben – zum ersten Mal seit meiner Kindheit. Ich lernte zu glauben, nicht aus Naivität, sondern aus Demut.
Und dann geschah das Wunderbare. Nein, es erschien mir kein Engel. Etwas viel Grösseres ereignete sich: In mein Leben und Denken traten die Kinder.
Woher kommen die Kinder? Aus dem Bauch ihrer Mutter, sagt die heutige Welt, und diese Überzeugung hatte früher auch ich. Aber es stimmt nicht. Die Kinder kommen vom Himmel. Oder sagen wir es so: Sie kommen aus einer anderen Welt. Und wenn sie dann hier sind, in unserer Welt und wenn sie dann sprechen lernen in unserer irdischen Sprache, dann erzählen sie von dieser anderen Welt. Dann erzählen sie Dinge, die sie hier noch gar nicht erlebt haben. Ganze Geschichten sprudeln aus ihnen heraus, manchmal auch nur einzelne Sätze, Nebensätze, die man überhören kann oder auch nicht, die man ernst nehmen kann oder auch nicht. Aber jedenfalls sind es Fragmente und Bilder, die unmöglich von hier sind.
Die Kinder, so scheint es, bringen sie mit. Sie bringen sie mit aus der anderen Welt, und warum soll die andere Welt nicht der Himmel sein? Auch vom Himmel selbst erzählen die Kinder, und sie reden von ihm, als ob es ihn gäbe, so selbstverständlich, wie es die Erde gibt. Meine jüngere Tochter war damals fünfjährig, und sie sagte eines Abends im Bett, als ich ihr Gute Nacht sagen wollte:
Vielleicht ist das, was wir erleben, gar nicht wirklich. Vielleicht ist es nur ein Traum.
Was ist denn wirklich? fragte ich sie.
Und sie antwortete: «So, wie es im Himmel ist, ist es wirklich.»
Wie ist es denn im Himmel? fragte ich weiter.
«Im Himmel», sagte meine Tochter, «muss man nie eine warme Jacke anziehen. Man kann mit den Vögeln fliegen. Man kann auf dem Rücken der Rehe reiten. Im Himmel ist alles fröhlich. Ich möchte lieber wieder im Himmel sein.»
Für meine Tochter war der Himmel nicht nur ein Bild. Es gab ihn wirklich für sie. Was berechtigt uns zur Behauptung, ein Kind, das so etwas sagt, phantasiere nur? Ein Kind ist erst wenige Jahre auf dieser Welt. Vielleicht erinnert es sich noch an den Himmel. Vielleicht weiss es wirklich noch mehr vom Himmel als wir.
Ich habe in meinem Leben zu viel gelernt von anderen Kulturen und Religionen, um das, was die Kinder erzählen, nur als kindliche Phantasie oder Archetypen der kindlichen Seele zu bewerten. Ich begann, den Kindern zu glauben. Ich begann, die Dinge nicht mehr bloss symbolisch zu sehen. Ich nahm sie wörtlich. Wenn etwas unsichtbar ist für das Auge – wer sagt, dass es nicht doch existiert? Genauso real existiert?
Und so habe ich damals auch die Bibel wiederentdeckt – das Neue Testament, dessen Wahrheitsgehalt vom heutigen Zeitgeist bezweifelt wird. Ich aber sagte mir: Wenn es den Himmel tatsächlich gibt, dann ist das alles, was in der Bibel steht, genauso real, dann ist dieser Jesus Christus wirklich übers Wasser gegangen. Dann hat er wirklich Kranke durch blosse Berührung gesund gemacht. Und vor allem – das war die schwierigste Hürde – dann war dieser Jesus Christus wirklich nicht nur ein Mensch. Dann war er wirklich ein höheres Wesen. Oder, um es in der Sprache der Bibel zu sagen: Dann war er wirklich Gottes Sohn. Und als Jesus von Nazareth, als irdischer Mensch mit göttlicher Botschaft hat er bei uns gelebt.
Damit war ich wieder beim Kreuzestod – beim Karfreitag. Aber ich blätterte weiter. Ich blätterte weiter zum Sonntag. Wenn es den Himmel gibt, sagte ich mir, dann gibt es auch das Wunder der Auferstehung. Dann war sie keine blosse Metapher. Dann ist Jesus Christus, obwohl er doch im irdischen Sinne tot war, tatsächlich auferstanden und den Jüngern wieder begegnet. Nicht mehr in irdischer, sondern in Lichtgestalt. Und die Jünger haben die Lichtgestalt mit ihren eigenen, physischen Augen gesehen, so wie sie vorher, als er noch lebte, den irdischen Jesus gesehen haben. Von da an wussten sie, dass zwar Jesus von Nazareth tot war, dass aber Christus, der Erleuchtete, lebt. Dass er weiterlebt in der höheren Sphäre des Himmels, von dem auch die Kinder erzählen, wenn sie hier auf die Erde kommen.
Nie hörte ich einen Pfarrer sagen, dass die Auferstehung ein Wunder war, eines, das sich wirklich ereignet hat. Von einem Nebel blieb sie umhüllt, der sie schonungsvoll von uns fernhielt. Von der Auferstehung wusste ich so gut wie nichts, damals, am Tag der Konfirmation. Von der Kreuzigung wusste ich alles: Hatte ich nur schlecht zugehört?
Heute weiss ich mehr. Heute bin ich frei, auf meine eigene, innere Stimme zu hören. Und diese Stimme sagt mir, dass mein Widerwille gegen den Tod am Kreuz, gegen die Düsternis des Karfreitags nur gesund und natürlich war. Ich muss nicht trauern um den Gekreuzigten – jubeln darf ich, dass Christus lebt und dass er nicht nur ein schäbiger Mensch war, sondern wirklich und wahrhaftig ein Gott. Das bedeutet Ostern seither für mich: ein Fest der Freude, jenseits von Schuld und menschlicher Schwäche. Keine Düsternis – sondern Licht überall. Denn der Winter ist tot und der Frühling lebt.