Das innere Sehen des Widerstandkämpfers
Der blinde Jacques Lusseyran ist während des zweiten Weltkriegs Chef einer Pariser Widerstandsgruppe. Dank seiner ausgeprägten Sinne kann er Freund von Feind unterscheiden. Eine vorerst letzte Kostprobe des neuen Zeitpunktes: machbar! Was Menschen alles können.
Als blinder Widerstandskämpfer hat Jaques Lusseyran Übermenschliches geleistet. Seine Biographie kann man lesen als Manifest gegen den Transhumanismus. Oder als ein frühes Manifest für die heute allgegenwärtige Achtsamkeit. Und natürlich als Manifest für die Bewahrung von Ehre, Respekt und das Recht auf Leben angesichts eines totalitären Regimes.
Jacques Lusseyrans Buch, 1953 erschienen, ist schmerzhaft zeitgenössisch. Auf Deutsch heisst das Buch leicht erweckungstheologisch «Das wiedergefundene Licht». Auf Französisch wird stolz und klar das Bibelwort zitiert: «Et la lumière fut» (Und es ward Licht). Denn genau so ergeht es Jacques, der als Kind erblindet: In sein Inneres ergiesst sich das Licht.
1942 ist Jacques Lusseyran nicht nur einer der besten Studenten der elitären Ecole Normale Supérieure in Paris. Er ist gleichzeitig Kopf einer Résistancetruppe in Vichy-Frankreich. Unter anderem ist er zuständig für die Rekrutierung neuer Mitglieder der Widerstandsformation «Volontaires de la liberté» (Freiwillige der Freiheit). In einer dunklen Kammer überprüft er die Kandidaten und kann an ihrer Stimme, ihrem Handdruck, ihrer Zögerlichkeit oder wilden Entschlossenheit erkennen, ob sie ehrlich und mit ganzem Herzen der Verteidigung der Nation und der Menschlichkeit dienen wollen.
Zudem hat er ein phänomenales Gedächtnis. In ihm türmen sich Tausende Telefonnummern und Adressen seiner Résistancegruppe. Hunderte durchlaufen diese Prüfung beim «Blinden», wie er voller Ehrfurcht genannt wird. Nur einmal gibt er seinem engsten Kreis nach, als sie im Norden dringend jemanden brauchen, der die Verteilung der Widerstandszeitungen organisiert.
Elio, so heisst der spätere Verräter, hat in Lusseyran Kopf etwas für ihn nie Dagewesenes erzeugt, wie wenn eine schwarze Linie aus Licht sich zwischen Elio und Lusseyran geschoben hätte. Und zum ersten Mal irrt Lusseyrans innerer Kompass zwischen Nein und Ja.
Lusseyran war acht Jahre alt, als er bei einem Gedränge in der Schule stürzt und sich ein Bügel seiner Brille in sein rechtes Auge bohrt. Der Arzt entfernt das verletzte Auge und auch das andere, das durch den grossen Aufprall, so dachte man, ebenfalls verloren war. Lusseyran wurde blind.
Hunderte durchlaufen diese Prüfung beim «Blinden», wie er voller Ehrfurcht genannt wird.
Heute hätte man wohl mit Operationen das Augenlicht retten können, allenfalls mithilfe von Mikrochips. Rachsüchtige Eltern und verängstigte Rektoren hätten zudem wohl Täter und zuständige Lehrpersonen ausfindig und vor Gericht haftbar gemacht. Stattdessen vollzog sich in Lusseyran eine Explosion an Wundern. Das Kind, das schon vorher stundenlang mit den Reflexen des Sonnenlichtes spielte, vervielfachte seinen Reichtum. Jacques eignete sich die Gegenstände an, indem er sie stundenlang betastete, abklopfte, ans Ohr hielt.
Zudem musste er seine Gedanken und Gefühle im Schach halten. Nichts Unreines konnte er sich erlauben, keinen Neid, Bitterkeit oder Selbstmitleid. Ansonsten stiess er sich unmittelbar an den Gegenständen, sie fielen zu Boden oder er stolperte. Wenn er sich aber in Konzentration – modern ausgedrückt, in die Achtsamkeit — versenkte, konnte er sogar die Höhe der Bäume abschätzen. Ohne die Blindheit heroisieren zu wollen: Aber was für einen unschätzbaren Wert haben solche Erfahrungen gegenüber dem transhumanistischen Projekt, das den Menschen durch Apparaturen vom Menschsein befreien möchte?
Lusseyran berichtet, dass viele sich vor der Abhängigkeit fürchten, die Blindheit oder ein anderes schweren Gebrechen mit sich bringen. Er kann das nicht verstehen. Für ihn ist das Angewiesensein auf andere keine Last, sondern tiefste Lust am Leben, an der Freundschaft, an der Gemeinschaft.
Und tatsächlich zieht er durch seinen grossen Intellekt, durch seine hohe Sensibilität und überhaupt durch seine Blindheit immer Menschen an, die darauf aspirieren, ihn auf all seinen Wegen zu begleiten. Der Abwart seines Gymnasiums nennt die Jungs, die sich um ihn scharen, «die Lusseyran-Truppe». Kaum ein Jahr später erwächst aus diesen Freunden eine der grossen Résistance-Gruppen in Frankreich. Und alle werden darauf beharren, dass er, Lusseyran, deren Chef ist.
Aber «Et la lumière fut» beschreibt nicht nur den Widerstand. Es ist voll zarter Töne und schildert Verliebtheit und Tanz. Ja, auch das kann der «Blinde»: Tanzen! Dabei wählt er seine Partnerinnen nicht nach deren von seinen Kameraden geschilderten Schönheit, sondern nach ihrer Gestimmtheit. Lachte ihre Stimme oder verriet sie Überheblichkeit und falschen Stolz?
Das Buch beschreibt die Nazizeit als grosse, scheinbar unbewegte Ruhe. Dass Frankreich von den Nazis eingenommen wurde, merkt der junge Gymnasiast Lusseyran an der Stille, die plötzlich in Paris eingekehrt. 85 Prozent der französischen Produkte werden nach Deutschland abtransportiert. Das Volk schweigt. Auch die Gestapo ist meist gesittet und höflich, wenn sie jemanden abholen.
Kaum ein Jahr später erwächst aus diesen engsten Freunden eine der grossen Résistance-Gruppen in Frankreich.
Die Beschreibung der Mitläufer weckt Erinnerungen an andere bösartige Regimes: brave Bürger, die ihr Hab und Gut bewahren und ihr Leben und das von Frauen und Kindern schützen wollen. Für diese gelten Lusseyran und die Résistance als «Terroristen», die die vermeintliche Ruhe in Frage stellen.
Und was war für Lusseyrans Widerstandsgruppe die allererste Aufgabe? Eine Zeitung! Die Verbreitung echter Nachrichten über den Krieg. Denn alle französischen Medien waren zensiert und verbreiteten nur Nazi-Propaganda. Die Kameraden hörten verbotenerweise englisches und schweizerisches Radio. Es galt, die Franzosen aufzuwecken, sie, wie sich Lusseyran ausdrückt, vor Defätismus, Gleichgültigkeit und Gewöhnung ans Naziregime zu bewahren.
Die Gefangenen wenden sich an ihn, um Trost und Hoffnung zu erhalten. Im Gegenzug sorgen sie dafür, dass niemand sein Brot und seine Suppe stiehlt.
Verraten von Elio, wird Lusseyran 1943 in Paris verhaftet, verhört und schliesslich nach Buchenwald verfrachtet, wo er bei Kriegsende von den Alliierten befreit wird. Jeder Überlebende der Konzentrationslager hat dies mehreren Wundern zu verdanken. Lusseyran hat auch seine Blindheit geholfen. Die Gefangenen wenden sich an ihn, um Trost und Hoffnung zu erhalten. Im Gegenzug sorgen sie dafür, dass niemand sein Brot und seine Suppe stiehlt.
Jacques Lusseyran, 1924 in Paris geboren, stirbt 1971 gemeinsam mit seiner dritten Ehefrau bei einem Autounfall. Da seit dem Vichy-Regime zu jener Zeit Blinde keine Professur innehaben durften, nahm er Rufe an verschiedenen amerikanischen Universitäten an und dozierte Philosophie und Literatur.
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