Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Und auch nicht, um «gesund» zu sein

Gerade Kinder, Ältere und Menschen mit Behinderungen wurden durch die Covid-19-Regelungen unverhältnismäßig hart getroffen. Der Paternalismus, mit dem die Corona-Maßnahmen bis heute als alternativlos verkauft werden, irritiert. Eine Antwort auf die Kritiker der Kritiker der Hygienemaßnahmen.

Wieso wurde das menschliche Bedürfnis nach sozialem Austausch nicht berücksichtigt?

Frau W. war 94 Jahre alt und Alzheimer-Patientin. Sie lebte in einer Pflegeeinrichtung der Diakonie bei Göttingen und wurde regelmäßig von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen besucht, unter anderem von Frau G., über deren Besuch sie sich immer sehr freute. Seit dem Beginn der Corona-Krise aber durfte Frau G., wie alle anderen externen Pflegekräfte der Einrichtung, nicht mehr zu ihr. „Was habe ich falsch gemacht? Sagt mir bitte, was ich falsch gemacht habe!?“ soll Frau W. immer wieder klagend gerufen haben. Auch ihre Kinder durften sie nicht mehr besuchen.

Nach sechs Wochen starb sie.

Herr C. (48) geht seit Juni wegen einer Depression in eine psychosomatische Tagesklinik. In der Zeit des Lockdowns, die er im Homeoffice verbrachte, stellte er fest, dass er immer trauriger wurde. Neben der fehlenden Ablenkung durch einen ohnehin wenig erfüllenden Job sieht er als Hauptgrund dafür den Verlust der familiären Beziehung zu seinen Söhnen (10 und 14 J.), die er seit der Trennung von seiner Frau im Wechselmodell betreute. „Normalerweise kamen sie an zwei Tagen in der Woche nach der Schule zu mir und wir sind zusammen zum Fussballplatz gegangen. Aber nach dem Shutdown waren sie immer seltener da und wenn, dann haben sie auf dem Sofa gesessen und auf ihre Handys geschaut.“

Frau M. (33) infizierte sich im März mit Covid-19. Sie arbeitete und lebte in einem Yoga-Zentrum und musste, weil es nur zwei Sammeltermine für Testungen gab, insgesamt vier Wochen in ihrem Zimmer verbringen. Während sie die Infektion selbst von den äußeren Anzeichen her gut überstand, entwickelte sie in der Zeit der Isolation eine Ess-Störung und wartet derzeit auf einen stationären Therapieplatz.

Hier soll es um die Regeln zur Pandemieeindämmung und ihre Auswirkungen auf die Seele der Menschen gehen.

Hier soll es nicht um eine Berechnung des Kollateralschadens gehen, der im Gesundheitswesen durch die Maßnahmen gegen das Coronavirus entstanden ist. Das ist zum jetzigen Zeitpunkt auch noch gar nicht möglich. Hier soll es auch nicht um virologische Fehleinschätzungen gehen, wie etwa die Vermutung, dass Kinder das Virus stark verbreiten – das Gegenteil scheint der Fall, wie etwa die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt. Hier soll es um die Regeln zur Pandemieeindämmung und ihre Auswirkungen auf die Seele der Menschen gehen. Und um die Frage: Musste man es genau so machen, ging es einfach nicht anders? Wären, bei gleichem Kenntnisstand über das Virus, unter den gleichen Grundannahmen über seine Verbreitung, nicht auch andere Maßnahmen denkbar und machbar gewesen?

Dazu das folgende Gedankenspiel: Wir blenden alles aus, was zwischenzeitlich über das Virus erforscht und berichtet wurde. Wir akzeptieren die zu Beginn der Lockdown-Maßnahmen getroffene Grundannahme, alle Menschen seien füreinander gleich ansteckend hinsichtlich Covid-19 (wogegen bereits im Februar Hinweise aus Studien sprachen). Wir akzeptieren ebenfalls die daraus resultierende Einschätzung, jeder stattfindende Sozialkontakt steigere in gleichem Maße das Pandemierisiko für die Gesamtbevölkerung. Auch dann stellt sich die Frage, ob sich daraus unter Hinzuziehung ethischer Gesichtspunkte zwingend die Maßnahmen ergeben mussten, die während des Lockdowns wirksam waren und die teilweise bis heute gelten.

Hätte nicht dennoch eine Abwägung stattfinden können, stattfinden müssen, die das menschliche Bedürfnis nach sozialem Austausch mit Verwandten, Freunden und guten Bekannten, nach menschlicher Unterstützung, Nähe und Berührung berücksichtigt? Ja vielleicht sogar nach gemeinschaftlichen Betätigungen, die mit Abstand möglich sind, damit nicht zwangsläufig sämtliche kulturellen, sportlichen und auch politischen Aktivitäten außerhalb von Online-Treffen zum Erliegen kommen?

So stellt sich beispielsweise die Frage, warum Hochrisikogruppen oder die, die man von Anfang an dafür hielt, nämlich insbesondere ältere Menschen, während des gesamten Lockdowns selbst zum Einkaufen gehen und dabei mit einer unbestimmten Anzahl von Menschen in Kontakt treten durften, Großeltern jedoch ihre Enkel nicht sehen sollten? Hätten zu diesen Vorgaben nicht ernsthafte Alternativen bestanden, die deutlich humaner, sozialer und sogar wirtschaftlich produktiver gewesen wären? Denn schließlich sind Großeltern ja auch wichtige Unterstützer bei der Kinderbetreuung für erwerbstätige Eltern – erst recht wären sie es in der Zeit der Kita- und Schulschließungen gewesen. Hätte man ältere Menschen nicht vor die Wahl stellen können, entweder ihr riskiert zufällige Kontakte beim Einkaufen oder ihr seht eure Enkel oder andere Personen, die euch wichtig sind?

Sicherlich hätten mehr Ältere auf den Gang in den Lebensmittelmarkt verzichtet, wenn sie eine andere "Aufgabe" gehabt hätten. Das Problem mit der materiellen Versorgung hätte sich leicht durch Bring-Services, oder, weniger anonym, durch von der Gemeinde unterstützte Einkaufsgemeinschaften lösen lassen. Schließlich weiß man spätestens seit der Zeit der Flüchtlingskrise, wie effektiv und schnell sich Freiwilligeninitiativen hierzulande organisieren können. Natürlich wäre auch ein viel gezielterer Einsatz von Tests möglich gewesen, um Besuche bei Risikogruppen – z.B. zu Ostern oder anlässlich von Geburtstagen oder auch Trauerfeiern – abzusichern. Doch all das wurde überhaupt nicht diskutiert, und zwar weder politisch noch in der medialen Debatte.

Einkaufen erlaubt, soziale Beziehungen verboten

Doch der Konsumgang blieb den Älteren erlaubt, die Pflege menschlicher Beziehungen wurde sanktioniert. Und das über eine sehr lange Zeit. Nicht selten gab es deswegen auch Streit und Tränen in den Familien. Mit dem Ziel, Senioren vor dem Virus zu schützen, wurden diese über Wochen, teilweise Monate ferngehalten von ihren Angehörigen und Freunden, wurden ihnen liebe Gewohnheiten wie der Gang ins Kaffeehaus, ins Kino, Theater oder auch ins Schwimmbad genommen – und auch der sonntägliche Gottesdienst durfte nicht stattfinden, obwohl doch fast nirgends die Kirchen außerhalb von Weihnachten voll sind.

Wer in Senioren- oder Pflegeheimen wohnte, war wohl oft noch schlechter dran: Besuche wurden fast überall stark limitiert, externe Pflegekräfte ausgeschlossen, Bewohner daran gehindert, nach draussen zu gehen. Ein Überblick über die – vermutlich nicht selten grundrechtswidrigen Beschränkungen – fehlt bislang. Mit Fassungslosigkeit liest man Berichte, dass sogar Sterbenden die Länge des Verwandtenbesuches vorgeschrieben wurde. Wer um Himmels willen wird besser dadurch geschützt, dass die (erwachsenen) Kinder einer Sterbenden nur nacheinander und stundenweise bei ihr sein dürfen?

Kinder waren übermäßig stark durch den Lockdown belastet, leiden nun als Folge etwa an Schlafstörung.

Und bei den Jüngsten: Dass Lehrer nicht ohne weiteres durch Avatare bzw. Algorithmen ersetzbar sind, haben mittlerweile wohl selbst die größten Apologeten der digitalen Bildung gemerkt – kein Schüler kann sich auf Dauer selbst motivieren. Unterschätzt wurde aber auch die soziale Rolle der Mitschüler, die für viele Kinder ein Grund sind, gerne in die Schule zu gehen. Doch in der virologischen Fehlannahme, Kinder seien sehr ansteckend, wurden diese besonders rigide und mitleidslos von ihren sozialen Beziehungen ferngehalten. Schule, Kindergarten, Spielplatz, Sport, Musikschule und Chor, Besuch bei Oma und Opa, alles zu, verboten und als gemeingefährlich deklariert.

Die Zwischenergebnisse einer aktuell noch laufenden Studie zeigen, was jeder Erwachsene, der Kinder in der Zeit des Lockdowns beobachtet hat, kommen sehen konnte: Die Kinder waren übermäßig stark durch den Lockdown belastet, zeigten häufiger psychische Auffälligkeiten als vor der Krise und berichteten von psychosomatischen Beschwerden wie Gereiztheit, Kopf- oder Bauchschmerzen sowie Schlafstörungen. Auch wenn die Autoren der Studie das bislang nicht so deutlich benennen: Es wird die Folge des Frontalangriffs auf die sozialen Beziehungen der Kinder gewesen sein, die das ausgelöst hat – gepaart mit der Öde wochenlangen Hausarrests

Paternalismus und «Alternativlosigkeit»

Fazit: Sowohl die Lockdown-Regeln als auch die Lockerungsübungen haben, ohne dass das beabsichtigt war, oberflächliche Sozialkontakte und den Virenaustausch innerhalb großer, einander unbekannter Menschenmengen gegenüber der Pflege regelmäßiger Beziehungen in kleineren Gruppen bevorteilt. Im Ergebnis entstand dadurch, auch weil zutiefst menschliche Bedürfnisse nach Austausch, Struktur und Gemeinschaftserlebnissen keine Berücksichtigung fanden, ein möglicherweise sogar größeres Verbreitungsrisiko für das Virus als bei sozialethisch differenzierteren Maßnahmen.

Die extrem reduzierten Möglichkeiten, gemeinsam mit anderen zu spielen, zu lernen, zu arbeiten, Sport zu machen oder Kultur zu erleben, haben Menschen in allen Altersgruppen traurig gemacht, vielleicht sogar psychische Beeinträchtigungen hinterlassen.

Letztlich waren vor allem diejenigen besonders benachteiligt, die ein besonderes Bedürfnis nach Nähe haben.

Der Paternalismus, mit dem die Corona-Maßnahmen bis heute als alternativlos verkauft und alle diejenigen, die Kritik daran üben, in einen Topf mit uneinsichtigen, unsolidarischen und undemokratischen "Corona-Leugnern" geworfen werden, irritiert. Um es vorsichtig auszudrücken. Gerade Kinder, Ältere und Menschen mit Behinderungen wurden durch die Covid-19-Regelungen unverhältnismäßig hart getroffen, und das noch dazu über einen viel längeren Zeitraum als der Rest der Bevölkerung. Letztlich waren vor allem diejenigen besonders benachteiligt, die ein besonderes Bedürfnis nach Nähe haben und oder auf Schutz oder Unterstützung durch andere angewiesen sind.

Für den Herbst und für die weitere politisch-gesellschaftliche Debatte ist zu hoffen, dass auch diese Perspektive Wahrnehmung findet.