Der zweite Schütze
Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.
Wer kennt nicht die Apfelschussszene in «Wilhelm Tell»? Als Tell den Hut des Vogtes nicht grüsst, verurteilt ihn der Landvogt zum Tode. So schildert es Friedrich Schiller in seinem Drama. Gnade lässt der despotische Gessler nur walten, wenn es dem Schützen gelingt, den Apfel vom Kopf des Sohnes zu schiessen. Doch woher kommt der Apfel? Gessler, so beschreibt es der Dichter, pflückt ihn vom Ast eines über ihm hängenden Zweiges.
In Wirklichkeit aber – so habe ich es mir ausgedacht – hing über Gessler kein Apfelbaumzweig. Nur am Rande des Platzes zu Altdorf befand sich ein Obstbaum. Deshalb winkte der Landvogt gebieterisch, aus der versammelten Menge heraus einen Knaben zu sich. Er befahl dem erschrockenen Kind, zum Baum hinüber zu laufen und ihm einen der Äpfel zu bringen.
Der Bub, der etwa im gleichen Alter war wie der Sohn des Tell, eilte folgsam und eingeschüchtert zum Baum, brach den einzigen Apfel, den er erreichen konnte, vom Zweig und übergab ihn, begleitet vom Murren des zornigen Volkes, einem der Knechte des Vogtes. Dann schlüpfte er mit gesenktem Kopf zurück in die Menge, weil er trotz seines kindlichen Alters spürte, dass er, wenn auch nicht freiwillig, beigetragen hatte zu einem Unrecht.
Meinrad, sein Vater, der in der hintersten Reihe der Zuschauer stand, hatte den Missbrauch des eigenen Kindes durch den grausamen Landvogt mit Empörung verfolgt. Es erbitterte ihn, dass er den Buben nicht daran hatte hindern können, dem Vogt gefällig zu sein. Er empfand es wie eine Schmach, die über seine Familie kam, denn er hätte nie dazu beitragen wollen, dass einem Mann aus dem eigenen Volk solche Ungerechtigkeit widerfuhr. Und es schmerzte ihn auch, dass der Knabe des Tell vielleicht sterben musste, während sein eigener Sohn ungeschoren davonkam.
Verzweifelt vor Wut und wildentschlossen verliess der Urner den Schauplatz und begab sich zu seinem Haus, das am Rande des Platzes lag. An der Haustür traf er auf seine Frau, die gerade ins Freie trat, um ebenfalls zu erfahren, was sich da draussen tat. Auf ihre angstvolle Frage gab er nur eine kurze Antwort. Er habe im Haus noch zu tun und komme dann nach.
Augenblicke danach verliess er die Wohnstatt und kletterte auf die Mauer des benachbarten Grundstücks. Auf der Umfriedung sitzend, sah er vor sich die Menge der Menschen, die das Geschehen umdrängten, und er sah in der Mitte, hoch auf dem Ross, aus naher Distanz, den barbarischen Landvogt. Niemand beachtete ihn, den Mann auf der Mauer, da alle Köpfe nach vorne blickten. So erlebte der Urner nun die von Schiller Jahrhunderte später geschilderte Szene. Er erlebte die verzweifelte Bitte Tells, Gessler möge ihm den Schuss auf seinen Sohn erlassen, er erlebte die Weigerung Gesslers, Erbarmen zu zeigen, und er musste mitansehen, wie dann der Schütze den Apfel auf dem Kopf des tapferen Buben in sein Visier nahm – jenen Apfel, den Meinrads eigener Sohn dem Landvogt zu Diensten vom Zweige gebrochen hatte.
Aber nicht nur Tell, wie in Schillers Drama verbürgt, legte die Waffe an. Auch Meinrad spannte die Armbrust. Er hatte sie bei sich zu Hause geholt, und sie lag neben ihm auf der Mauer. Nun hatte er sie an sein Kinn gelegt. Nun zielte auch er. Und weil er ein ebenso guter Jäger und Schütze war, ging kein Zittern durch seine Hand. Sie blieb ganz ruhig.
Im gleichen schicksalhaften Moment flog der Pfeil des Tell, vom Vater entsandt, in die Richtung des eigenen Sohnes. Der Schütze traf. Er teilte den Apfel, wie es uns überliefert ist – und ein erlöstes Stöhnen erfasste die gemarterte Menge.
Auch Meinrad stöhnte erleichtert auf. Er liess seine Armbrust sinken. Hätte Tell statt des Apfels den Sohn getroffen, dann hätte Meinrad nicht mehr gezögert. Dann wäre auch sein Geschoss durch die Luft gesaust – und es hätte sein Ziel, des Tyrannen Herz, nicht verfehlt.
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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