«Die Corona-Schulschliessungen waren verfassungswidrig»

Nach der Abweisung vom Bundesverfassungsgericht klagt eine Mutter aus Baden-Württemberg am Europäischen Gerichtshof der Menschenrechte gegen die Schulschliessungen der Corona-Lockdowns in Deutschland. Gespräch mit der Sprecherin der Klage, Stefanie Raysz.

Stefanie Rays (Foto: Christa Dregger)

Frage: Stefanie, du bist selber Mutter von drei heranwachsenden Kindern, warst früher Lehrerin, lebst und arbeitest in der Gemeinschaft Schloss Tempelhof. Euer Abenteuer begann vor fast zwei Jahren mit einer Verfassungsbeschwerde. Warum und mit welchem Ergebnis habt ihr sie eingelegt - und wer seid ihr?

Stefanie Raysz: Eine Mutter, deren Kinder am Schloss Tempelhof zur Schule gehen, und einige Menschen um sie herum reichten im Mai 2021 die Beschwerde ein. Ich war deren Sprecherin. Die Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen § 28b Absatz 3 Satz 3 des Infektionsschutzgesetz, das am 23. April 2021 in Kraft trat – die sogenannte Corona-«Bundesnotbremse». Wir haben geklagt, dass die Schulschliessungen, die insgesamt über 100 Tage gingen, verfassungswidrig sind. Denn sie verstossen gegen verschiedene Gesetze: z.B. gegen das Recht auf physische Unversehrtheit, das Recht auf Bildung und Chancengleichheit. 

Dazu kommt noch, dass die Bundesregierung eigentlich nicht in Länderangelegenheiten eingreifen darf. Die Bundesnotbremse hat das aber getan. Dabei hat die Bundesregierung zu keinem Zeitpunkt den Notstand ausgerufen. Auch aus diesem Grund war es nicht korrekt, die Schulschliessungen als Pandemiebekämpfung überhaupt anzuordnen. 

Und noch etwas: Die Schulschliessungen beruhten immer auf Inzidenzien. Die Inzidenzen beruhten auf PCR-Tests. Aber die PCR-Tests sind dafür gar nicht konzipiert. Bei einer Inzidenz von ab 165 wurde automatisch wie mit der Giesskanne über 11 Millionen Kinder geurteilt. Obwohl da schon klar war, dass die Kinder im Pandemie-Geschehen keine bedeutende Rolle spielten. Kinder waren nicht die Träger, erkrankten weniger, und die hauptsächliche Übertragung geschah nicht in Schulen. Sogar im Gegenteil: Schulbesuch hatte vielfach eine dämmende Wirkung. Trotzdem wurden die Schulen dichtgemacht.

Eigentlich hätte das Gericht unsere Gutachten widerlegen müssen. Das hat es aber nicht getan.

Das war ungerecht, und dagegen reichten wir im Mai 2021 Beschwerde ein. Mit uns gab es 270 andere Verfassungsklagen. Vier davon wurden angenommen, unsere war dabei. Das Gericht liess sich dann ein Dreivierteljahr Zeit. Und das trotz der Brisanz, dass etwa 11 Millionen Schüler über so einen langen Zeitraum nicht zur Schule gehen konnten. Im November 2021 teilten sie uns dann mit, dass die Schulschliessungen korrekt und verfassungskonform seien. Wir haben also die Klage verloren. Und das trotz unserer Gutachten. Eines davon – aus der Charité Berlin – besagte, dass die Schulschliessungen wahrscheinlich nicht wesentlich dazu beitragen, das Pandemiegeschehen einzudämmen. 

Eigentlich hätte das Gericht unsere Gutachten widerlegen müssen. Das hat es aber nicht getan. Es gab nicht mal eine mündliche Anhörung. Das Verfassungsgericht ist aber das Oberste Gericht in Deutschland. Es ist verbindlich, und man kann innerhalb Deutschlands dagegen nicht mehr vorgehen.

Durch unsere Klage wird Kindern jetzt das Menschenrecht auf Bildung gewährt.

Frage: Wie ging es dir mit der ersten Ablehnung vom Bundesverfassungsgericht?

Stefanie Raysz: Mein erster Gedanke war, von Gerichten und Richtern kann ich nichts mehr erwarten. Wenn man nicht mal mehr auf normalem, formalem Weg mit Fakten Recht bekommt, wo kann ich noch auf Gerechtigkeit hoffen? Es fand ja auch keine Diskussion statt. 
Unser Anwalt fand, dass wir ja einen Erfolg mit unserer Beschwerde erzielt hatten: Das Gericht hat das Recht auf Bildung anerkannt. Also durch unsere Klage wird Kindern jetzt das Menschenrecht auf Bildung gewährt. Das reichte mir aber nicht.

Wir haben unser Anliegen dann vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht. Die sind weniger den Vorgängen oder Gesetzen eines Landes verpflichtet als der Menschenrechtskonvention. Der Europäische Gerichtshof nimmt nur etwa 2% aller Klagen an. Unsere wurde angenommen – seit Januar haben wir den Bescheid. Nun hat das Bundesverfassungsgericht bis zum 12. April Zeit, dazu Stellung zu nehmen. Es muss prüfen, ob wirklich die mildesten Massnahmen gewählt worden sind. 

Frage: Was wären denn mildere Mittel gewesen?

Stefanie Raysz: Wie von der Charité und anderen Gutachtern vorgeschlagen, hätten tägliche Testreihen in Schulen, Abstand, Lüften, vielleicht Wechselunterricht oder adäquater Hybridunterricht ausgereicht. Statt dessen wurden flächendeckende Schulschliessungen gewählt. Und die waren ein gravierender Angriff auf das Recht auf Bildung, das Recht auf physische Unversehrtheit und das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung. Die Schulschliessungen verstossen auch gegen das Recht auf Chancengleichhei: Man hat festgestellt, dass Kinder aus finanziell schwächeren eklatante Nachteile haben, da sie monatelang praktisch nicht beschult wurden. Das Europäische Gericht wird auch prüfen, inwiefern die Voraussetzungen auf einen adäquaten Unterricht gegeben waren. Waren alle Kinder überhaupt mit Computern ausgestattet? Wurden sie von Lehrern besucht? Wie erhielten sie das Unterrichtsmaterial?

Die Bundesregierung hatte damals ebenfalls Gutachten in Auftrag gegeben, ob Schulschliessungen rechtlich möglich und sinnvoll sind. Die Ergebnisse ihrer eigenen Gutachten haben die Frage mehrheitlich verneint.

Frage: Warum physische Unversehrtheit?

Stefanie Raysz: Schule hat noch andere Aufgaben, als nur Wissen zu transportieren. Schule bietet Kindern Schutz. Denn dort werden Misshandlungen, Unterernährung, Entwicklungsverzögerungen usw. entdeckt. Das geschah aufgrund der Corona-Schulschliessungen eine lange Zeit nicht. Heute weiss man, dass die Schulschliessungen zu gravierenden physischen und psychischen Verletzungen führten, z.B. durch nicht entdeckte häusliche Gewalt, durch Mangelernährung etc. Fälle von Adipositas, Essstörungen, Kontakthemmungen, die Zahl der Schulabbrecher ist eklatant hochgegangen. Das Europäische Gericht wird deshalb auch prüfen, inwieweit die zu erwartenden Folgen überhaupt in Erwägung gezogen wurden. Denn die Bundesregierung hatte damals ebenfalls Gutachten in Auftrag gegeben, ob Schulschliessungen rechtlich möglich und sinnvoll sind. Die Ergebnisse ihrer eigenen Gutachten haben die Frage mehrheitlich verneint. Doch das wurde einfach ignoriert.

Frage: Was glaubst du warum?

Stefanie Raysz: Schüler bilden eine Bevölkerungsgruppe, die einfach zu fassen ist. Man hat 11 Millionen Menschen, die man sehr einfach aus dem sozialen Geschehen herausnehmen konnte. Die Schulschliessungen waren aber «fremdnützig»: Man hat den Schülern das Recht auf Schule genommen, nicht um sie selbst, sondern um andere vulnerable Gruppen zu schützen. Das ist ein juristisches und ethisches Dilemma, aber eigentlich eine klare Sache: Wenn sich die Älteren vor den Jüngeren schützen wollten, dann hätten sie das auf anderem Wege tun müssen. Dennoch wurden die Massnahmen hauptsächlich auf ihrem Rücken ausgetragen. Die Alten wurden auch nicht gefragt, ob sie das überhaupt wollten. 

Beeinträchtigungen der Kinder durch Schulschliessungen:

  • Die gesundheitlichen Nachteile reichen von Bewegungsmangel über psychische Leiden wie Angst und Depression bis hin zu dauerhaften und irreversiblen Schädigungen in der Persönlichkeitsentwicklung und im Sozialverhalten.
  • Kinder finanziell schwacher Familien sind dabei stärker betroffen, wodurch ihre Zukunftschancen noch weiter sinken.
  • Vernachlässigungen durch Eltern werden nicht mehr zeitnah entdeckt. Kontaktbeschränkungen in anderen Bereichen verstärken diese Effekte teilweise.
  • Auch das Immunsystem wird durch den deutlich eingeschränkten Kontakt zu anderen Menschen nicht mehr, wie üblich, durch Virenaustausch „trainiert“ und somit anfälliger für Infektionskrankheiten.
  • Diese Beeinträchtigungen der Kinder durch das Verbot des Präsenzunterrichts sind mittlerweile umfassend in Studien belegt und wurden nicht berücksichtigt.

Frage: Was war deine Motivation für so viel Arbeit, Recherche, ohne Bezahlung? Und was erwartest oder erhoffst du vom Gerichtsurteil? 

Stefanie Raysz: Mir geht es um das Aufspüren von politischer Willkür. Und unsere Kinder gehören zur vulnerabelsten Gruppe in Sachen Entscheidung, Demokratie, Beteiligung. Mir geht es darum, festzustellen, wie gehen wir mit Wahrheit um? Mit Demokratie? Gerichte sind ein Teil unserer Möglichkeiten, um herauszufinden, wie wollen wir eigentlich miteinander leben. Und wenn etwas ungerecht ist, möchte ich das aufdecken und ändern können. Wenn das nicht mehr funktioniert, gehen wir in eine Willkürherrschaft über. Ich wünsche mir, dass die Menschen aufwachen und nicht hinnehmen, was mit ihnen passiert. Dass sie mündige Bürger sind. Dass sie mitdenken bei allen Strukturen und Entscheidungen. Dass wir uns beteiligen an dem, was mit uns passiert. Wenn wir Recht bekommen, werden die Menschen merken: Sie können, wenn sie sich in eine Sache reinarbeiten, auch etwas bewegen.
Von Lauterbach&Co erwarte ich nicht nur eine Entschuldigung. Für ihr Handeln gab es keine wissenschaftliche Basis. Damit herrschte Meinungswissen statt Faktenwissen. Egal warum Manipulation oder Propaganda geschehen, ich möchte, dass wir in der Lage sind, in einen fachlichen Dialog zu treten. 
Das Erschreckende ist, dass relativ wenige Menschen angefangen haben, das Narrativ zu hinterfragen. Es hat einen Nerv getroffen, und damit war es dann angenommen. Und dadurch, dass der Sachverhalt komplex ist, haben viele aufgegeben. Sie haben es einfach akzeptiert und wollten dann nicht mehr darüber reden. Die Betroffenheit war grösser als der Hunger nach Aufklärung. Sie sagten, ich weiss es ja auch nicht besser. Aber sie haben sich eben nicht darum gekümmert. So hat einfach keine Diskussion um eine Faktenlage stattgefunden. Aber darum geht es. 

Frage: Viele Entscheidungen wurden ja aus Angst getroffen.

Stefanie Raysz: Ja, aber darüber fand kein Diskurs statt. Ich war nicht angstgesteuert. Ich machte mir die Mühe, das in Ruhe anzuschauen. Das hat sehr viel Zeit gekostet. Ich habe auch Freunde verloren. Aber wenn ich mich nicht mit etwas auseinandersetze, kann es sein, dass ich in eine Angst gerate. 

Von Lauterbach&Co erwarte ich nicht nur eine Entschuldigung.

Frage: Das Verfassungsgericht ist also jetzt am Zug. Was wird geschehen, wenn sie euch recht geben? 

Stefanie Raysz: Dann werden im Nachhinein die Massnahmen für verfassungswidrig erklärt. Inwieweit sich dann welche Minister rechtfertigen müssen, inwieweit sich wieder Experten zu Wort melden – ich weiss es nicht. Aber es wird in Zukunft schwieriger sein, ohne Beweise, ohne Anhörung verschiedenster Fachleute Massnahmen umzusetzen, hoffe ich.

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Die Verfassungsbeschwerde und die Klage wurden durch Spenden finanziert. Für die jetzt erforderlichen Gutachten fehlen noch etwa 5000 Euro. Stefanie Raysz und ihre Gruppe sind sehr dankbar für jede Unterstützung. 

14. Februar 2023
von:

Über

Christa Leila Dregger

Submitted by cld on Sa, 09/17/2022 - 12:37

Christa Dregger-Barthels (auch unter dem Namen Leila Dregger bekannt). Redaktionsmitglied des Zeitpunkt, Buchautorin, Journalistin und Aktivistin. Sie lebte fast 40 Jahren in Gemeinschaften, davon 18 Jahre in Tamera/Portugal - inzwischen wieder in Deutschland. Ihre Themengebiete sind Frieden, Gemeinschaft, Mann/Frau, Geist, Ökologie.

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Darin bin ich im Gespräch mit Denkern, Philosophinnen, kreativen Geistern, Kulturschaffenden. Meine wichtigsten Fragen sind: Sind Menschheit und Erde noch heilbar? Welche Gedanken und Erfahrungen helfen dabei? 

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